Lebendige Seelsorge 1/2020. Erich Garhammer

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Lebendige Seelsorge 1/2020 - Erich Garhammer

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dienstliche oder geschäftliche Tätigkeit ‚negotium‘, was ‚Unmüßigkeit‘ heißt. Betrachtend ist das Leben von Philosophen in ihren Akademien, von Gelehrten und Literaten, die unbehelligt von Tagesgeschäften ihren Gedanken nachgehen. Die Muße, in der ein solches Leben geführt wird, ist keine Freizeit, auch keine ‚Auszeit‘. Beide Wörter bezeichnen eine Ausnahme, der gegenüber etwas anderes, nämlich die Arbeit, der Normalfall wäre. Wer hingegen in Muße lebt, muss an Arbeit gar nicht denken, ohne deshalb untätig zu sein. Philosophische oder allgemein gelehrte Studien, die Lektüre und das Schreiben von Gedichten sind Tätigkeiten, aber offenbar keine Arbeit im Sinne der ‚Unmüßigkeit‘. Was aber dann?

      WIE BIN ICH TÄTIG?

      Mit dieser Frage könnte das Nachdenken über Muße jenseits historischer Reminiszenzen interessant werden. Offenbar gibt es verschiedene Arten des Tätigseins, die man miteinander vergleichen und so klären kann. Dabei mag einem bewusst werden, wie man selbst tätig ist, und das wiederum könnte ein Anlass für die Frage sein, ob man so tätig sein möchte. Sinnvoll ist die Frage nur, wenn es Alternativen gibt. Ist die Muße, ehemals das Vorrecht von Philosophen, Gelehrten und Literaten, allgemein eine solche Alternative?

      Ein Vergleich des Tuns in Muße mit der Arbeit mag dazu beitragen, das zu entscheiden. Unter Arbeit versteht man im Allgemeinen eine Tätigkeit, die in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Ergebnis führen soll. Arbeitszeit ist begrenzt, aber in dieser Zeit ist eine bestimmte Leistung zu erbringen. Außerdem wird meist erwartet, dass die Arbeit innerhalb einer vorher festgelegten Zeit zu einem Ergebnis führt, nicht selten auch, dass zu einer festgelegten Zeit gearbeitet wird. Arbeit, derart verstanden, ist also zeitgebundene Tätigkeit; sie vollzieht sich nach einer zeitlichen Ordnung, in der gemessenen Zeit, und sie unterliegt zeitlich bestimmten Erwartungen. Diese Bestimmung der Arbeit ist so formal, dass sie auf sehr verschiedene Tätigkeiten zutrifft. Es ist die Zeitgebundenheit, die Tätigkeiten, so verschieden sie sein mögen, zur Arbeit macht.

       Günter Figal

      Dr. phil. habil., Prof. em. für Philosophie an der Universität Freiburg; freier Autor.

      Ginkaku-ji, Kyoto, Tee- und Dichterhaus von Ashikaga Yoshimasa

      Fotografie: Günter Figal

      Wenn das Tun in Muße sich im Kontrast zur Arbeit bestimmen lässt, müsste es demnach ohne Zeitgebundenheit sein, und so lässt sich dieses andere Tun, das Tun von Gelehrten oder Dichtern, in der Tat beschreiben. Wer in Muße seinen Studien nachgeht oder Gedichte schreibt, möchte zwar etwas erreichen oder auch zustande bringen. Aber es ist dabei unwichtig, ob man in einer bestimmten Zeit zu Einsichten kommt oder Gedichte innerhalb einer bestimmten Frist fertig werden – sich derart unter Druck zu setzen dürfte sogar hinderlich sein. Zu Tätigkeiten wie den genannten gehört im Gegenteil, dass man sie nicht forciert; sie müssen sich entwickeln können und entsprechend gehört zu ihnen auch das Nichtstun – das Innehalten, bei dem man Texte, die man gelesen hat, wirken lässt oder Texten, die man schreibt, Gelegenheit gibt, wie von selbst zu entstehen; wenn man bei literarischen Texten, Gedichten vor allem, den Eindruck hat, dass sie ‚gemacht‘ sind, ist das von Nachteil. Nachdenken, Studieren und Dichten braucht Muße, es lässt sich nicht zielgerichtet erledigen. Vielleicht tut man zwischendurch sogar etwas, das in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Sache steht, die einen beschäftigt. Man schaut ein Buch oder ein Bild an, räumt auf oder geht spazieren. Vielleicht fällt einem gerade dabei etwas zu einer Frage ein, der man nachgeht, oder zu dem Text, an dem man schreibt.

      James-Simon-Galerie, Museumsinsel Berlin (David Chipperfield Architects) Fotografie: Günter Figal

      TÄTIGSEIN IN MUSSE

      Tätigkeiten in Muße sind demnach solche, bei denen die Zeit keine Rolle spielt. Zwar läuft die Uhr weiter, es wird Mittag und Abend, es können auch Wochen, sogar Monate vergehen. Aber der Zeitlauf strukturiert diese Tätigkeiten nicht. Deshalb sind sie meist auch nicht durchgeplant und ohne jede Zielstrebigkeit. Sie kommen ohne zeitliche Ordnung, also ohne Zeit, aus und sind in diesem Sinne ‚zeitlos‘.

      Möglicherweise hat man deshalb bei Tätigkeiten in Muße auch nicht das Gefühl, besonders aktiv zu sein. Man tut etwas, gewiss, aber dieses Tun ist eigentümlich gelassen. Es gehört in den Zusammenhang anderer möglicher Tätigkeiten und vor allem gehört es mit dem Nichttun zusammen, mit dem Innehalten und Verweilen. Statt auf eine besondere Tätigkeit konzentriert zu sein, erlebt man so eher eine Situation und mit dieser einen Freiraum, in dem Tun wie Lassen möglich ist und in dem man vor allem einfach sein kann, auch ohne sich für ein bestimmtes Tun oder zwischen Tun und Lassen entscheiden zu müssen.

      Sollte dieses einfache Seinkönnen in einem Freiraum die Muße sein? Dann wäre Muße kein besonderer Modus des Tuns – derart, dass man dasselbe ‚in Muße‘ tun könnte oder auch nicht – sondern vielmehr die Möglichkeit eines Freiraums, auf den man sich einlassen kann. Muße wäre raumhaft, und dazu passt, dass das Wort ursprünglich einen Frei- oder Spielraum bezeichnet, einen Raum, der Möglichkeiten gibt und als die Offenheit dieser Möglichkeiten erfahren werden kann. Entsprechend könnte ein Tun in Muße darin gelassen sein, dass es in ein Ensemble von Möglichkeiten zurückgenommen ist und dass es weniger auf das Tun ankommt, als darauf, dieses Ensemble in seiner Offenheit zu leben.

      MUSSE ALS FREI- UND SPIELRAUM

      Der Raumcharakter der Muße wird dadurch bestätigt, dass es besondere Mußeräume gibt, Räume also, die das Seinkönnen in einem Freiraum auf je besondere Weise möglich machen. Die philosophischen Akademien waren solche Räume, Bibliotheken können es sein, auch Museen oder Gärten wie zum Beispiel der Wandelgarten des Tempels Ginkaku-ji, den sich Ashikaga Yoshimasa am nordöstlichen Rand von Kyoto anlegte, nachdem er 1482 sein Amt als Shōgun aufgegeben hatte, um sich dem Nachdenken, dem Lesen und Schreiben von Gedichten zu widmen – wodurch übrigens eine lang andauernde literarische Kultur begründet wurde.

      Auch Hotels können Mußeorte sein oder Bäder, die keine Unterhaltungseinrichtungen sind, sondern zur Ruhe kommen und in Ruhe sein lassen wie zum Beispiel Peter Zumthors Therme in Vals in Graubünden. Und es gibt Mußeräume, die eher für einen kurzen Aufenthalt gedacht sind, für eine Weile, in der man vielleicht Eindrücke und Erfahrungen nachklingen lässt. So ist der von David Chipperfield Architects gebaute Säulenhof zwischen dem Neuen Museum und dem Pergamonmuseum in Berlin, ein ebenso weitläufiger wie intimer Raum, einzig von einem flachen Steinbrunnen akzentuiert, dessen murmelndes Wasser man hört, während man im Schatten auf einer Bank sitzt und dem Licht zwischen den Säulen zuschaut.

      Mußeräume wie die beschriebenen haben gemeinsam, dass sie keine Richtungen vorgeben und also auch nicht in einer Richtung durchquert werden müssen. Sie sind vielmehr dezentral und lassen in ihrer Dezentralität frei, wie man die Möglichkeiten, die sie bieten, wahrnimmt. An japanischen Wandelgärten wie dem des Ginkaku-ji ist das besonders sinnfällig zu erfahren. Solche Gärten bieten viel Raum auf gar nicht so großer Fläche. Man überschaut sie eigentlich nie, und jeder Weg, jeder Ort zum Innehalten gibt eine neue Perspektive, die immer eine auf denselben Garten ist, sodass man an jedem Ort im Garten ist, dort, wo man sein will ‚einfach hier‘, in diesem Garten. Auch Museen können derart sein, und so ist das ‚Museum des 21. Jahrhunderts‘ in Kanasawa in Japan. Der Bau des Architektenbüros SANAA ist nicht nur Kunstausstellung, sondern vor allem Aufenthaltsort, er ist locker in von einem runden Glasbau umfasste Kuben gegliedert und legt auf keinen ‚Weg durch die

      Ausstellung‘ fest. So erlebt man mit jedem Exponat nicht nur die Ausstellung, sondern

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