Lebendige Seelsorge 1/2020. Erich Garhammer

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Lebendige Seelsorge 1/2020 - Erich Garhammer

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ihm entsprechend, zu sein. Und es sind gebaute und angelegte Mußeräume, mit denen diese Möglichkeit bereitgestellt ist. Sie zu bauen und anzulegen heißt, sich eigens um die Möglichkeit der Muße zu kümmern.

      Museum des 21. Jahrhunderts, Kanasawa, Präfektur Ishikawa (SANAA) Fotografie: Günter Figal

      MUSSE IST ETWAS ANDERES ALS FREIZEIT

      Allerdings mögen die genannten Beispiele auch ein Bedenken nahelegen: Muße, so scheint es, ist eine Ausnahme. Sie ist wenigen vorbehalten oder, wenn es anders ist, dann nur für eine begrenzte Zeit möglich. Wie aber soll man in einer begrenzten Zeit die Zeit vergessen? Wenn das unmöglich ist, scheint Muße doch nichts anderes als Freizeit zu sein, bemessene Frist, die sich darin, dass sie zeitbestimmt ist, nicht grundsätzlich von der Arbeit unterscheidet.

      Um dieses Bedenken zu entkräften, könnte man als erstes darauf hinweisen, dass Muße in mannigfachen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, wie man sie kennt, nicht aufgeht. Man kann auch in Muße ‚arbeiten‘, und bestimmte Tätigkeiten, die sogenannten ‚kreativen‘, sind eigentlich nur in Muße möglich. Außerdem ist es kein Einwand gegen die Möglichkeit der Muße, dass diese nicht das ganze Leben ausfüllt. Schon Aristoteles weist darauf hin, das beide, Muße und ‚Unmüßigkeit‘ (ἀσχολία), also Arbeit im erläuterten Sinne, das menschliche Leben bestimmen (vgl. Aristoteles, 4–26). Auch wäre es seltsam, wenn man bei allem, was nur in begrenzter Zeit möglich ist, immer an die zeitliche Begrenztheit denken müsste. Wer ein Konzert hört und dabei von der Musik eingenommen ist, wird während des Zuhörens kaum daran denken, dass die Musik nur eine bestimmte Zeit dauert. So wird es immer dann sein, wenn man bei einer Sache ist. Eine Sache, die für sich einnimmt, lässt die Zeit unwichtig werden und nicht selten vergessen. Und schließlich wird die Bedeutung, die Muße für das Leben hat, nicht allein daran zu messen sein, wie viel Zeit das Leben in Muße im Vergleich mit der Arbeitszeit einnimmt. Entscheidend ist vielmehr, welche Lebensform wichtiger ist, weil sie dem menschlichen Leben mehr entspricht. Aristoteles lässt daran, wie er das einschätzt, keinen Zweifel. Wir seien ‚unmüßig‘ um des Müßigseins willen, nicht umgekehrt (vgl. Aristoteles, 4–5).

      WIR SIND UNMÜSSIG DER MUSSE WEGEN

      Worin liegt dieser Vorrang eines Lebens in Muße? Unter der Voraussetzung, dass ein Leben in Muße allein ein ‚betrachtendes Leben‘, also ein philosophisches Leben, ist, sieht Aristoteles den Vorrang dieses Lebens in seiner Selbstgenügsamkeit und in seiner Vollendung. Das philosophische Betrachten braucht niemand anderen, und ist nicht darauf angelegt, etwas, das noch nicht verwirklicht ist, zu erreichen, sondern ist immer das, was es ist.

      Diese Antwort wird man nicht übernehmen müssen, wenn sich das Leben in Muße als ein Leben in räumlicher Freiheit begreifen lässt. Statt zwischen einem vollendeten und einem nicht vollendeten Leben zu unterscheiden, wird man dann sagen können, dass Muße und Arbeit nicht einfach im Gegensatz stehen, sondern dass die Arbeit voraussetzt, was sich in der Muße erschließt. Jedes Tun braucht räumliche Freiheit, einen Freiraum, in dem es vollzogen werden kann; jedes Tun vollzieht sich im Spielraum verschiedener Möglichkeiten, die ‚nebeneinander‘ da sind. Und jedes Tun ist überhaupt nur möglich, weil man ‚einfach hier‘ ist, dort wo man ist und tut, was man tut. Im zielgerichteten, zeitbestimmten Arbeiten wird diese Raumbestimmtheit des Lebens nicht frei. Sie bleibt unbeachtet, verdeckt, weil die ganze Aufmerksamkeit der Zielrichtung, der Planung einzelner Schritte und vor allem der Zeit gilt, von der das Tun bestimmt ist. Demgegenüber ist Muße von der Zeit unabhängig. In ihr wird die Raumbestimmtheit des Lebens zu räumlicher Freiheit.

      Damit ist nicht gesagt, dass die räumliche Freiheit sich immer und in jeder Situation unverdeckt leben ließe. Arbeit lässt sich nicht abschaffen, und insofern wird das Leben in Muße im Allgemeinen nicht das einzige sein können. Gemessen am Arbeitsleben wird es immer eine ‚Ausnahme‘ sein, und es wird in der Tat nur unter besonderen Bedingungen anders als für eine begrenzte Zeit möglich sein. In dieser begrenzten Zeit – in der man die Zeit vergisst – kann jedoch deutlich werden, dass einem bei der Arbeit entgeht, was sich in Muße erschließt. So kann man lernen, die Arbeit von der Muße her zu sehen, statt umgekehrt die Muße von der Arbeit her und so nur als ‚Freizeit‘.

      GEBAUTE FREIRÄUME

      Was über Muße und Arbeit gesagt wurde, gilt analog auch für die Architektur. An den Mußeräumen, die für das Leben in Muße so wichtig sind, kann man lernen, dass Bauwerke, die ‚einfach hier‘ sein lassen, den Sinn der Architektur klarer erfüllen als schematische Funktionsbauten, deren Raumgestaltung der Erfüllung zeitlicher Vorgaben verpflichtet ist. Architektur ist gebauter Raum, und der japanische Garten ist ‚mehr Raum‘ als die Fertigungshalle einer Fabrik – es sei denn, es gelingt, Fertigungshallen zu bauen, die auf ihre Weise den klaren Raumsinn eines japanischen Gartens realisieren. Das ist keine Utopie, denn es gibt solche Bauten – um sie zu sehen, muss man nur den Vitra Campus in Weil am Rhein besuchen. Gute Architektur zeigt immer, dass Bauwerke nicht in ihren Funktionen aufgehen müssen und so Funktionalität in die Offenheit von Freiräumen gestellt werden kann. Was Architekten können, sollte auch sonst nicht unmöglich sein, und entsprechend müsste man die Arbeit auch von der Muße her sehen können. So würde sich das Verständnis von ‚Arbeit‘ verändern, wohl nicht auf einen Schlag, aber allmählich und wohl mit Folgen, die noch nicht absehbar sind.

       LITERATUR

      Aristoteles, Nikomachische Ethik X.7; 1177b.

       Produktive Unterbrechungen: Faszination Lesen

      Die Gegenwartsliteratur fokussiert verstärkt Muße, Langsamkeit, Downshifting, ja, eine neue Leichtigkeit des Seins. Wie Literatur hat das Lesen keine Funktion in der Nutzens- und Verwertungslogik von Arbeit, Fleiß und Effizienz. Als Königsdisziplin höherer Zwecklosigkeit dient die Muße des Lesens der produktiven Unterbrechung und dem Genuss freier Eigenzeit. Christoph Gellner

      „Er war pleite, erledigt bis zum Tag der Erlösung, der war hienieden die Entschuldung“ (Timm, 217). Für Christian Eschenbach, den 55-jährigen Helden von Uwe Timms (*1940) Roman Vogelweide (2013), geht der Bankrott als Softwarefirmenchef mit dem Zerbrechen seiner engsten Beziehungen einher. „Sieben, acht Jahre lang war er ein reicher Mann gewesen. Allerdings arm an Zeit. Es gibt eine Zeitarmut. Die wiederum zur Verrohung führt. Eine Brutalisierung des eigenen Selbst. Er arbeitete. Verhandelte. Reiste. […] Keine Nacht vor drei ins Bett. Früh morgens raus. Zu Hause das Rudergerät. Der Sandsack in der Firma, an dem nicht nur er seine Wut, seinen Hass abarbeiten konnte, sondern auch die anderen, die Programme zur Optimierung erstellten und ihren Frust an den Sandsack, der nur ein wenig hin- und herschaukelte, prügelten.“ (Timm, 166f.)

      Mit spürbarer Sympathie schildert Timm, einer der wichtigsten Autoren der 68er-Generation, wie Eschenbach nun allein als Vogelwart auf einer winzigen Insel in der Elbmündung eine wohltuend-befreiende Entschleunigung erlebt: „Die Stille des Gehens, dieses Hineingehen in Ruhe, Gleichgültigkeit, die Abwesenheit von jener Umtriebigkeit der letzten Tage“ (Timm, 13) – „diese unglaubliche Erleichterung“ (Timm, 218).

      DER WAL HATTE IHN AUSGESPUCKT

      „Ich bin reich geworden, dachte Eschenbach, ich habe Zeit, ich nehme mir die Zeit. Nichts treibt mich.“ (Timm, 260) In dieser mußevollen Auszeit kommt er endlich dazu, einen lange aufgeschobenen Essay über Jona fertig zu stellen. Wie der biblische Prophet wurde auch Eschenbach an Land gespuckt, was er als regelrechte Wiedergeburt erlebt. War es früher für ihn „die reine Lust, an einer alles umfassenden Dynamik teilzuhaben“, so war diese Lust jetzt „verschwunden und mit ihr der Sinn, wie Wasser im Abflussloch der Badewanne, aus der es mit einer kreiselnden Bewegung verschwand.

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