Lebendige Seelsorge 1/2020. Erich Garhammer
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Am Ziel angekommen, hat Gilbert die selbstvergessen-gesammelte Achtsamkeit so sehr verinnerlicht, dass er sich von einer Person, die ein Ziel erreichen will, in jemanden verwandelt hat, der sich in kontemplativer Betrachtung und gelassener Aufmerksamkeit dem Fluss der Dinge überlässt entsprechend dem vorangestellten Motto Matsuo Bashōs: „Wenn du etwas über die Kiefer lernen willst, begib dich zur Kiefer. Und wenn du so tust, mußt du deine persönlichen Interessen an dir selbst aufgeben, denn sonst drängst du dich dem Gegenstande auf und wirst nichts lernen“. Kaum zufällig treffen sich Zen-Buddhismus und christliche Mystik eines Meister Eckhart oder Angelus Silesius in der Erfahrung eines Lebens ohne Warum, ohne Worumwillen im Sinne des Verzichts auf selbstgesetzte Zwecke, Ziele und Antreiber. Die Kieferninseln eröffnen dazu einen sinnlich-narrativen Zugang.
LESEN ALS HÖHERE KUNST ‚TRÄGEN‘ DASEINS
Worin besteht die Faszination des Lesens? Aus dem Hamsterrad außenbestimmter Geschäftigkeit ausbrechen, innerlich freiwerden für die Segnungen von Nichtstun, Stillstand und langer Weile als produktiver Unterbrechung, ja, Voraussetzung für Aufmerksamkeit, schöpferische Kreativität und Genussfähigkeit: Ohne dass dies literarisch eigens Inhalt und Thema werden muss, lassen Mußestunden mit Poesie und Belletristik ganz unmittelbar die spielerische Kraft ästhetischer Erfahrung erleben. Durch ihre kontemplative Unterbrechung unserer Alltagsgeschäfte wie die fiktive Durchbrechung eingespielter Wahrnehmungsroutinen bildet sie eine unersetzbare Experimentierform im Umgang mit Wirklichkeit, ein imaginatives Laboratorium des Möglichkeitssinns.
Durch Lesen wird es möglich, zur Ruhe zu kommen, die Welt um sich herum zu vergessen und so der vielfältigen Wirklichkeit neu gewahr zu werden. Lesend per Kopfkino in fremde Welten einzutauchen, lässt sonst kaum wahrgenommene Lebensentwürfe und -gestaltungsalternativen lust- und erkenntnisbringend durchspielen. Gerade so, im freien Spiel der Fantasie, befreit von Handlungs- und Entscheidungsdruck, eröffnet Lesen Entdeckungs- und Reflexionsspielräume für die Vorstellung eines guten Lebens jenseits aller Nutzenskalküle: es könnte auch anders sein.
LITERATUR
Bärfuss, Lukas, Koala. Roman, Göttingen 22014.
Gellner, Christoph, nach oben offen“. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile, Ostfildern 2013.
Ders., Die Bibel ins Heute schreiben. Erkundungen in der Gegenwartsliteratur, Stuttgart 2019.
Ders./Langenhorst, Georg, Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013.
Poschmann, Marion, Die Kieferninseln. Roman, Berlin 32017.
Timm, Uwe, Vogelweide. Roman, Köln 2013.
Muße-Erzählungen?
Replik von Günter Figal auf Christoph Gellner
Ich stimme Christoph Gellner zu: Lesen ermöglicht einen Abstand zur alltäglichen Welt mit ihrem „Handlungs- und Entscheidungsdruck“, es eröffnet „Entdeckungs- und Reflexionsspielräume“, und es lässt auf den Gedanken kommen, das alles „auch anders sein“ könnte, als man es kennt. So ist es zumindest beim Lesen von Romanen. Allerdings ist diese Freiheit gegenüber der alltäglichen Welt im Allgemeinen nicht ohne Irritation zu haben. Romane geben keine klaren Verständnislinien vor, sondern bieten nur Ambivalenzen, je besser sie sind, desto subtiler. Dann ist nichts eindeutig, alles kann verschieden gelesen, verschieden aufeinander bezogen, verschieden ernst oder ironisch genommen werden, ohne dass man an der Eindeutigkeit des Textbestandes zweifeln müsste. Was kann man, wenn es so ist, aus Romanen lernen, zum Beispiel aus denen, die Christoph Gellner vorstellt, und zum Beispiel über Muße?
Vielleicht lernt man, Fragen zu stellen. Ist Eschenbach, eine der Hauptfiguren in Uwe Timms Roman Vogelweide jemand, der, wie Gellner schreibt, eine „mußevolle Auszeit“ erlebt – dieser Flüchtling vor den Trümmern seines Privatlebens und dem Bankrott seiner Firma? Dann müsste das „Gefühl der Sinnentleerung“, das ihn, den zum Vogelwart gewordenen alternativ-etablierten Bürger, durchstimmt, Muße sein. Und wie ist es mit jener Apologie der Trägheit, als die man den Roman von Lukas Bärfuss lesen kann, der das träge australische Beuteltier, den Koala, im Titel führt? Immerhin haben Trägheit und Faulheit den Bruder der Erzählerfigur in den Suizid getrieben. Oder nicht? Sind es die anderen, die Fleißigen, die eine ziellose Existenz mit gelegentlicher Freude an einer gedeihenden Hanfplantage nicht aushalten? Aber hätte jemand sich umgebracht, ausgerechnet mit Heroin, wenn er sein Leben erfüllt gefunden hätte? Und sollte das, was man ‚Muße‘ nennt, nicht mit jener Lebenserfülltheit verbunden bleiben, die in der Tradition mit diesem Wort immer mitschwang?
Auch Gilbert Silvester, der Held in Marion Poschmanns Roman Die Kieferninseln (2017), ist kein besonders glücklicher Mensch, vielmehr ein Ausweicher und Wegläufer. Ein „unscheinbarer Wissenschaftler, Privatdozent“ (Poschmann 2017, 10), der akademisch vieles, wenn nicht alles ‚falsch gemacht‘ hat und nun auch noch glaubt, dass seine Frau ihn betrüge, nur weil er es geträumt hat, daraufhin den erstbesten Flug nimmt, in Tokyo landet und dem Land gründlich misstraut, weil sich „in Teeländern alles unter dem Schleier der Mystik“ (Poschmann 2017, 14) abspiele. Trotzdem kauft er am Flughafen neben anderen Klassikern der japanischen Literatur das Reisetagebuch des Dichters Bashō in englischer Übersetzung und erklärt nach dessen Lektüre einem lebensmüden japanischen Studenten, den er getroffen hat, die japanische Kultur. Ausgerechnet während einer Nacht im bei Selbsttötern beliebten Wald Aokihagara imaginiert Silvester einen Brief an seine Frau, in dem er, der Erforscher von „Bartmode und Gottesbild“ (Poschmann 2017, 13), darüber nachsinnt, ob Bashōs Reise wohl eine ‚mentale Exkursion‘ sei – so wie das Itinerarium mentis des christlichen Theologen Bonaventura (Poschmann 2017, 76f.). Daran kommen ihm Zweifel; er ahnt, dass Bashōs Reise gar nichts Innerliches ist, sondern wirklich durch den Norden Japans führt – es ist, als ob er damit, wenigstens für einen Augenblick, aus seiner eigenen vertrackten Innenwelt herausfände.
Viel spricht nämlich dafür, dass Silvesters merkwürdige Japan-Reise selbst eine ‚mentale Exkursion‘ ist. Trifft er den jungen lebensmüden Mann, den er zum Schreiben von Haikus anstiftet, wirklich? Dessen Name, Tamagochi, klingt genauso und schreibt sich ähnlich wie ‚Tamagotchi‘, das Wort für ein elektronisches Küken, das man ‚versorgen‘ muss, weil es sonst ‚stirbt‘. Marion Poschmann, eine Meisterin poetischer Ambivalenzen, lässt den Studenten im Laufe der Geschichte einfach verschwinden und führt ihren Helden zu einer der drei sprichwörtlich schönsten Landschaften Japans, den Kieferninseln, Matsushima, die