Jahrbuch der Akademie CPH - Anregungen und Antworten. Группа авторов
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Zudem gibt es Bürgerrechtsgruppen, die aus den freiheitlich-bürgerrechtlichen Defiziten der deutschen Geschichte ein fundamentalkämpferisches Menschen- und Grundrechtsverständnis entwickeln, dem jede Forderung nach effektiveren staatlichen Maßnahmen zuwider ist. Der bürgerliche wie der sozialistische Staat werden aus dieser Perspektive als strukturell repressiv verstanden; ihm noch mehr rechtliche Mittel an die Hand zu geben, wäre für alle Bürger fatal. Seit Jahrzehnten in der Menschenrechtsarbeit aktive Gruppen wie die „Humanistische Union“ oder das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ wenden sich gegen Einschränkungen öffentlicher Auftritte z. B. der NPD. In den Worten eines bekannten Sprechers, des Berliner Politologen Wolf-Dieter Narr:
„Statt Verbote – öffentliche Auseinandersetzungen: Lebendige Demokratie und ein nicht heuchlerisches Menschenrechtsverständnis der staatlichen Institutionen zeigt sich in der offenen Auseinandersetzung. Den Opfern des Nationalsozialismus wird man nicht gerecht, wenn man Demokratie und Meinungsfreiheit örtlich einschränkt“ (Narr 2005).
„Nie Wieder“ als normativer Maßstab des Grundgesetzes
Im August 2008 legte der damalige Vizechef der NPD, Jürgen Rieger (inzwischen verstorben), Verfassungsbeschwerde gegen den vierten Absatz des Volksverhetzungs-Paragraphen 130 des Strafgesetzbuchs ein. Rieger monierte hier unzulässiges Sonderrecht, weil sich Absatz 4 allein gegen die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft wende und damit nur gegen eine bestimmte politische Richtung. Grundrechte auf Versammlungs- bzw. Meinungsfreiheit dürften nur auf Grundlage allgemeiner Gesetze, nicht aber durch Sonderrecht eingeschränkt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2009 die Verfassungsbeschwerde mit folgender Argumentation (in der Zusammenfassung von Jörg Lange vom Erfurter Max-Weber-Kolleg) zurückgewiesen:
„Grundsätzlich bestätigte es die Auffassung, dass die Meinungsfreiheit nur durch ein allgemeines Gesetz eingeschränkt werden dürfe. Die Regelung zur NS-Herrschaft sei, so das Gericht, allerdings kein allgemeines Gesetz, das heißt Sonderrecht – aber dennoch ‚ausnahmsweise‘ mit der im Grundgesetz vorgesehenen Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit ‚vereinbar‘. Eine solche Ausnahme lasse sich begründen angesichts des ‚einzigartigen‘, ‚sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und […] Schreckens‘ der NS-Herrschaft. Diese Erfahrung sei von grundlegender Bedeutung ‚für die Identität der Bundesrepublik Deutschland‘ und deren Entstehungsgeschichte. […] Das bewusste Absetzen von der nationalsozialistischen Herrschaft sei ein ‚historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte‘ gewesen und bilde ‚ein inneres Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung‘. Das Grundgesetz könne ‚geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden‘ und sei ‚von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen‘. Folglich sei dem Grundrechtsartikel zur Meinungsfreiheit eine ‚Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent‘, die Befürwortung der NS-Herrschaft in Deutschland dementsprechend als ‚ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens‘ zu beurteilen und insofern ‚mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar‘“ (Jörg Lange 2010, S. 4).
Die Sonderstellung des Nationalsozialismus für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat sich indes nicht so klar und ausdrücklich in den Formulierungen des Grundgesetzes niedergeschlagen. Jörg Lange fragt deshalb kritisch, ob „für die Annahme eines Sonderrechtsstatus der NS-Erfahrung möglicherweise weniger der Entstehungskontext des Grundgesetzes selbst leitend gewesen sei als der Kontext des gegenwärtigen Umgangs mit der NS-Vergangenheit“ (Lange 2010, S. 12). Um zu verdeutlichen, dass sich auch in anderen Rechtskulturen spezifische historische Erfahrungen und ihre aktuelle Verarbeitung niederschlagen, will ich mit dem Rechtsphilosophen Winfried Brugger einen Blick in die Vereinigten Staaten werfen.
Hate Speech in den USA
Brugger beginnt mit einer Begriffsbestimmung: Hate Speech umfasst jede Form der Meinungsäußerung, die verletzend für jegliche rassische, religiöse, ethnische oder nationale Gruppe war. Nach einem Durchgang durch die Auseinandersetzungen um das Verbot bestimmter Arten von Meinungsäußerungen im universitären Kontext („campus speech codes“) kommt Brugger zu dem Fazit: „Amerikanische Policy-Antworten auf rassistische und ethnische Agitation und Hassrede unterscheiden sich deutlich von jenen in anderen westlichen Demokratien“ (Brugger 2009). In seiner Kontextualisierung der unterschiedlichen Verfassungstraditionen verweist Brugger auf „verschiedene geistesgeschichtliche Fundamente und auf die Erfahrungen der Vergangenheit, die zur unterschiedlichen Behandlung von freier Rede innerhalb der jeweiligen rechtlichen Rahmen geführt haben“ (Brugger 2009). Im Grundgesetz stehe – im Unterschied zur Meinungsfreiheit im First Amendment der USA – der Schutz der Menschenwürde an oberster Stelle.
„Die amerikanische Tradition vertraut auf die Durchsetzungskraft von guten Meinungen im Wettbewerb mit schlechten.“ Die Kraft der öffentlichen Vernunft werde als effektivstes Mittel gegen Hass und Unsicherheit verstanden. Dagegen ist einzuwenden – und Brugger verweist auf die Debattenbeiträge aus der US-Frauenbewegung gegen Rassismus und Pornografie – dass ja durch Hassreden wirkliche Verletzungen hervorgerufen werden, dass die Würde von Einzelpersonen und Gruppen tatsächlich verletzt wird und geschützt werden sollte. Zudem „gibt es einen kumulativen Effekt von physischer und verbaler Gewalt“ (Brugger 2009). Ich fasse das Ergebnis dieser rechtsvergleichenden Darstellung so zusammen: Aus der amerikanischen Tradition der Meinungsfreiheit ergibt sich unzweifelhaft eine tiefgreifende gesellschaftliche Verbundenheit mit dem Prinzip, dass alle Meinungen Zugang zum „marketplace of ideas“ haben sollen. Ungeachtet dessen stellen die Auswirkungen, die Hassrede auf die betroffenen Gruppen hat, ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem dar. Greift man nicht ein, so bleiben die Opfer weiterhin Opfer der Worte, die verwunden.
Bruggers rechtsvergleichende Darstellung ist vorsichtig bei der Bewertung der beiden Traditionen, im Unterschied zu der von ihm eher skeptisch beurteilten Position von Judith Butler. Die auch in Deutschland bekannte feministische Sprachwissenschaftlerin arbeitet mit dem Foucaultschen Diskursbegriff, der das feine Verwobensein von Denk- und Herrschaftsstrukturen gerade auch im Strafrecht analysiert. In ihrer Untersuchung „Hass spricht – Zur Politik des Performativen“, in den USA 1997 unter dem Titel „Excitable Speech A Politics of the Performative“ erschienen, argumentiert sie ganz aus einem liberal-staatskritischen Grundverständnis heraus:
„Wenn die Befürworter einer rechtlichen Verfolgung von hate speech die state action doctrine [Staatliches Handeln ist rechtlich anders zu sehen als gesellschaftliches, der Verf.] verabschieden, verabschieden sie möglicherweise zugleich eine kritische Auffassung der Staatsmacht, indem sie deren Attribute auf jene Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten übertragen, über die Staatsbürger als Subjekte verfügen. Indem der Staat mit seinem Rechtssystem über die Verfolgung von hate speech entscheiden soll, erscheint er stillschweigend als eine Form der neutralen Rechtsdurchsetzung“ (Butler 2006, S. 78 ff.).
Sie parallelisiert als Feministin die gesellschaftliche Definitionsmacht über Geschlechts- mit der staatlichen über Rassen-Identität. Besonders die Befürworter der Strafverfolgung warnt sie vor der produktiv-diskursiven, definitorischen Macht des Staates. Darüber hinaus, so Butler, produziere der Staat Hate Speech. Die rechtliche Kategorie der Hassrede könne ohne das Tätigwerden des Staates nicht existieren und der Staat entscheide zwischen Sprechbarem und Nicht-Sprechbarem. Dadurch lege der Staat selbst fest, was allgemein akzeptable Rede sei. Rede sei mithin solange nicht hasserfüllt oder diskriminierend, bis die Gerichte