Von Casanova bis Churchill. Barbara Piatti
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Die 35 Porträts verstehen sich also als Schaufenster, Gucklöcher auf vergangene Zeiten, «en miniature» vermitteln sie eine andere Geschichte der Schweiz, voller erheiternder, inspirierender, verstörender oder trauriger Momente. Natürlich liesse sich das alles viel ausführlicher erzählen, auch stehen hinter jedem Porträt ganze Epochen. Genauer: Ausgehend von diesen «fremden Blicken», dem Prisma der Reisenden, liesse sich leicht eine fast komplette Geschichte der Schweiz rekonstruieren: wirtschaftliche Entwicklung, Tourismus und Infrastruktur, politische Vernetzung, internationale Beziehungen.
Unerzählte Geschichten
«Ich erinnere mich, wir standen an einem Steilhang: was war das für ein Nebel dort unten. Je tiefer, desto dunkler. Man konnte meinen, unten sei ein Meer von Sepia. Und die Tannen wurden immer seltener und dünner im Stamm. Ich erinnerte mich an Russland, den Norden. Und endlich: Rigi-Kulm, mehr als 2000 Meter hoch. Alle drei Riesenhotels auf diesem Gipfel sind leer, von Schnee verweht und im Nebel kaum zu sehen. Im Haupthotel fanden wir ein Zimmer, unten in der Stube für die Angestellten ist ein Ofen, drei Schweizerinnen mit hochroten Gesichtern. Wir trockneten uns, assen etwas. Und verbrachten den langen Winterabend in dieser Höhe, in absoluter Verlassenheit. Wir gehen schlafen.
[…] Wir gingen durch das leere Hotel, durch die leeren Hallen, Salons und Restaurants. Überall ist es kalt, die Stühle sind aufeinandergestellt, die Beine nach oben, die Schritte hallen wider. Es ist Winter! In einer Woche verlassen alle das Hotel bis zum Frühling.»
So hat der russische Dichter Iwan Bunin im November 1900 die sonst überfüllte Rigi erlebt – einer der zahlreichen Texte, die – leider – nicht auch noch aufgenommen werden konnten.
Es fehlen, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen: Johann Wolfgang von Goethe, Mme de Staël, Mark Twain, Vladimir Nabokov, Alexandre Dumas, Jules Verne, William Turner, Thomas Alva Edison, Marcel Proust. Es fehlt Hölderlins genialische Fussreise durch den Kanton Schwyz, es fehlt der junge Borges, auf Klettertour im Mont Salève, es fehlt Karl Kraus unterwegs mit seiner Geliebten Sidonie Nadhérny, im Automobilrausch, es fehlen Zelda und Francis Scott Fitzgerald auf ihrer traurigen Route zwischen psychiatrischen Anstalten und Luxushotels – und noch so viele mehr.
Ausklang
Die Porträtserie endet mit Churchill im Jahr 1946. Dabei kann die Reise des britischen Staatsmannes bereits als eine anachronistische Erscheinung gesehen werden – Reisen wie die seine gab es schon nicht mehr, ein wochenlanger Aufenthalt mit Musse zum Malen, Schreiben, für Gespräche. Als der Tourismus in den 1950er-Jahren so allmählich wieder angekurbelt wurde, als mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wieder zahlende Gäste in die Schweiz kamen, da hat sich das Bild von Grund auf geändert. An die Blütezeit des Schweizer Tourismus in der Belle Époque liess sich nie mehr anknüpfen. Sport, vor allem im Winter, stand im Vordergrund, aus den wochenlangen Reisen durch die Schweiz oder Kuraufenthalten in der Schweiz wurden Tagesausflüge. Pauschalangebote, wie sie schon Thomas Cook zusammenstellte, gewannen an Beliebtheit. Und die prunkvollen Hotelpaläste sahen schweren Zeiten entgegen. Zum einen war ihr Fassadenschmuck, überhaupt der ganze Glanz und Schimmer einer untergegangenen Epoche, den puritanischen 1950er-Jahren ein Dorn im Auge – viele der alten Hotelpaläste, die sich gar nicht mehr rentabel füllen und betreiben liessen, wurden damals abgerissen.
Wie aber sieht es mit den Reisenden aus? Gibt es noch Intellektuelle, Literaten, Kunstschaffende, die eine Schweizer Reise alten Stils unternehmen im 20. Jahrhundert, im 21. Jahrhundert? Die Antwort lautet ganz klar: Nein, dieser Typus kehrt wohl nicht wieder. Was es als Phänomen jedoch gibt: die sogenannten Footstep Travellers, die Reisenden in den Fussspuren berühmter Vorgänger – ein Verfahren, das sich im 19. Jahrhundert schon etabliert hatte. Die russische Journalistin Natalia Popowa reiste 1981, mitten im Kalten Krieg, auf den Spuren von Karamsin und Tolstoi durch die Schweiz, W. G. Sebald reiste auf den Spuren von Jean-Jacques Rousseau (1996), Michail Schischkin trat, wie schon erwähnt, in die Fussstapfen von Tolstoi und Byron (2013), Diccon Bewes in jene der Jemima Morrell (2013), Antoine Wagner erleben wir – fotografisch, filmisch – auf den Spuren seines Ururgrossvaters Richard (2015). Solche Touren, die gibt es immer wieder. Wenn sie gut und geistreich gemacht sind, dann verbinden sie auf charmante Weise längst vergangene touristische Epochen mit unserer Zeit. «Mir aber war es in dem Rousseauzimmer, als sei ich zurückversetzt in die vergangene Zeit, eine Illusion, auf die ich umso leichter mich einlassen konnte, als auf der Insel dieselbe, von keinem noch so fernen Motorgeräusch gestörte Stille herrschte wie überall auf der Welt vor hundert oder zweihundert Jahren», schildert W. G. Sebald in seinem unnachahmlichen Tonfall seine Erfahrungen auf der St. Petersinsel.
Die Porträts in diesem Lesebuch sind dagegen mit Absicht nicht als nostalgische Zeitreisen verfasst. Die vorgestellten Persönlichkeiten lebten am Puls ihrer Zeit, oft mitten im Strudel des politischen Geschehens, und sie waren Vorreiter und Vorreiterinnen auf ihren Gebieten, sie waren die Avantgarde. Sie kamen, blieben einige Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre in der Schweiz, dann gingen sie wieder. Diese illustren Gäste machen einen Teil der Schweizer Kulturgeschichte aus – und es ist wohl nicht übertrieben zu sagen: einen bewegenden.
Zum Aufbau der Kapitel Bildauswahl:
Sowohl bei den Landschaftsbildern wie auch bei den Autorenporträts soll die grösstmögliche Nähe zur Zeit des Aufenthalts hergestellt werden. In manchen Fällen stammen die Impressionen von Ortschaften, Landschaften oder Innenräumen, die den Auftakt zum jeweiligen Kapitel bilden, von den Reisenden selbst, etwa im Fall von Karl Friedrich Schinkel, Felix Mendelssohn Bartholdy, John Ruskin und Elizabeth Main, die fleissig gezeichnet respektive fotografiert haben. Wenn nicht, dann sind es Motive aus der Zeit, nach dem Motto «ein solches Bild hätten sie sehen können». Bei den Porträts gibt es einige eindrückliche Beispiele von Schnappschüssen vor Ort (Arthur Conan Doyle, Anderl Heckmair, Winston Churchill). In anderen Fällen war es leider nicht möglich, solche Zeitdokumente zu finden (beziehungsweise: es gab erst gemalte Porträts). Von Franz Kafka etwa existiert kein einziges Foto von seiner Schweizer Sommerreise im Jahr 1911, weswegen ein offizielles Passbild von 1915 gewählt worden ist, das zumindest das Reisethema aufnimmt. Bei manchen Porträts ist man ganz dicht an der Person dran, bei anderen schieben sich die Konventionen dazwischen, eine repräsentative Pose oder die Gepflogenheiten eines Fotostudios.
Routenverlauf:
Die Auflistung der Stationen erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sie deutet nur stichwortartig an, in welcher Richtung und mit welchen wichtigsten Stationen die Reisenden die Schweiz durchquert haben – und woher sie kamen, wohin sie gingen.
Jahreszahl:
Genannt wird immer das Jahr, in dem die Reise stattgefunden hat, obwohl im Kommentar fast immer auch Geschehnisse davor und danach einbezogen werden.
Texte:
Bewusst ist autobiografisches Material ausgewählt worden, nicht Fiktionen. Die Grenzen verlaufen da selbstredend fliessend. Viele der hier Porträtierten haben ihre Schweizer Erlebnisse in Romanen, Erzählungen, Gedichten und Dramen umgesetzt, oft waren Briefe und Tagebücher Vorstufen zu diesen literarischen Ausarbeitungen. Von Lord Byron wird aber zum Beispiel kein Auszug aus seinem Drama Manfred abgedruckt, sondern einer aus dem Tagebuch.
Forschungsliteratur