Von Casanova bis Churchill. Barbara Piatti
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Die letzte Flucht, jene, die uns all diese detaillierten Auskünfte zu Casanovas Leben und eben auch zu seinem Aufenthalt in der Schweiz beschert hat (wobei, unnötig zu betonen, nicht immer so ganz klar ist, wo die Wahrheit endet und die Erfindung anfängt), ist eine, die nur im Kopf stattfand; eine Flucht in Gedanken. 1785 begannen die dreizehn letzten traurigen Jahre Casanovas, ohne Frauen, ohne Reisen, ohne alles, was ihn ausgemacht hatte, er war ein kranker und für damalige Verhältnisse sehr alter Mann. Der Lebenskünstler und Bonvivant sass auf Schloss Dux in Böhmen, angestellt als Bibliothekar. Eine Art Gnadenbrot, das ihm der junge Graf Josef Waldstein gewährte. Auf Anraten seines irischen Arztes befasste er sich mit der Niederschrift seiner Memoiren, täglich bis zu dreizehn Stunden über die Blätter gebeugt. Und tatsächlich, das erneute Durchleben seiner Abenteuer, amouröser und anderer, liess noch einmal das Blut in seinen Adern schneller fliessen. 1791 schrieb er seinem Freund Johann Ferdinand Opitz, dass er täglich arbeite und guter Dinge sei. «Welche Freude, sich an vergangene Freuden zu erinnern! Es amüsiert mich, weil ich nichts erfinde.»
Von Dux aus liess er auch die Schweizer Episoden noch einmal in seiner Vorstellung aufsteigen, mit erstaunlich vielen Details. Die Schweizer Städte waren nicht Venedig und auch nicht Paris. Aber Casanova fand auch hier seine Bühne – beziehungsweise richtete sich geschickt eine her. Nachdem er sich in Einsiedeln für kurze Zeit mit dem (nicht ganz ernst zu nehmenden) Gedanken trug, Mönch zu werden, gab er sich in Zürich schon wieder ganz anderen Fantasien hin. Ziel seines Begehrens war diesmal eine geheimnisvolle «Amazone» – in Begleitung dreier weit weniger attraktiver Freundinnen, wie Casanova unwillig bemerkte. Die Amazone, mit bürgerlichem Namen Maria Anna Ludovica von Roll, 24 Jahre alt, entflammte ihn dermassen, dass er sich einen Schauspielertrick ausdachte, um in ihre Nähe zu gelangen (wie der genau funktionierte, das soll er selber erzählen, siehe Originaltext). Die bühnenreife Szene im Gasthof Zum Schwert gehört zweifellos zu den witzigsten und schönsten Passagen in den Memoiren. Doch da auch der passionierte schauspielerische Auftritt nicht dazu führte, dass Casanova im Bett der Amazone landete oder sie in seinem, musste er sich noch etwas anderes einfallen lassen. Er folgte dem Objekt der Begierde bis nach Solothurn, mietete dort extra ein Landhaus für stille Stundendoch es wollte und wollte nicht klappen diesmal, es ergab sich keine günstige Gelegenheit, um die Amazone zu verführen.
Trost aber war, wie immer bei Casanova, nicht weit: Da war zum Beispiel seine «Haushälterin» Madame Dubois, für die er ungewohnt tief empfand («Ich betrachtete sie als meine Frau; wir liebten uns und konnten uns nicht vorstellen, dass wir uns eines Tages trennen würden»), später zwei Bernerinnen in der berüchtigten Badeanstalt im Matte-Quartier unten an der Aare, dann drei Genferinnen, die er hintereinander und gleich mehrfach beglückt, und so weiter. Die Szenen in der Schweiz sind recht explizit, am Schauplatz Genf wird etwa ein Liebesspiel mit Metallkugeln, eingelegt in eine alkalische Lösung, beschrieben, die Casanova zur Verhütung einsetzte statt der von ihm verabscheuten Präservative («[…] aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich in ein Stück toter Haut einzwängen werde, um Ihnen zu beweisen, dass ich völlig lebendig bin»). In Zürich versorgte ihn eine Kupplerin mit wechselnden Gespielinnen, er vergnügte sich «aber nur sehr schlecht», denn die unverständliche einheimische Sprache, das «grobe Schweizerdeutsch», machte ihm zu schaffen. «Und ohne die Sprache vermindert sich das Vergnügen an der Liebe gleich um wenigstens zwei Drittel.»
Es wäre aber, das muss man immer wieder betonen, ganz und gar verfehlt, Casanova auf die Rolle des Verführers zu reduzieren. Er war ein kluger Kopf, ein Universalgelehrter, sprach fünf Sprachen fliessend, war befreundet mit Voltaire, mit Katharina der Grossen und mit Benjamin Franklin, er erfasste den Wert einer Bibliothek auf einen Blick (siehe seine Einschätzung der Bibliothek von Einsiedeln, Originaltext), war Experte im zeitgenössischen Musikgeschehen, ein grosser Menschenkenner und ein noch grösserer Schriftsteller. Der amerikanische Casanovist Tom Vitelli sagt sogar: «Geschichte meines Lebens ist grosse Literatur. Wahrscheinlich ist es die grösste Autobiografie aller Zeiten – in Thematik, Umfang, Stil und Sprache.»
Vor diesem Hintergrund kann man Casanovas Reise durch die Schweiz auch noch anders lesen. Seine Schilderungen enthalten zahlreiche aufschlussreiche kulturhistorische Details und Einschätzungen. Dabei kristallisiert sich das Bild des kultivierten Reisenden heraus, der kein Auge hat für die Naturschönheiten; dafür ist es – historisch gesehen – gerade noch zu früh: Die Landschaft war, überspitzt gesagt, noch gar nicht erfunden. «La nature le laisse complètement indifférent», die Natur lässt ihn vollkommen gleichgültig, heisst es bei Pierre Grellet im schönen Band Les Aventures de Casanova en Suisse (1919), oder noch pointierter: «Casanova va passer cinq ou six mois en Suisse sans la voir», er wird fünf oder sechs Monate in der Schweiz verbringen, ohne sie zu sehen. In der lieblichen Gegend rund um den Murtensee interessieren ihn der Geschmack der Fische und das Beinhaus aus der Zeit der Burgunderkriege, nicht die Landschaft; die Alpen werden ohnehin mit keinem Wort erwähnt. Einen Reisenden wie Casanova (sein Desinteresse an der Natur ist nicht individuell, sondern epochal bedingt) faszinierten Architektur, Bibliotheken, Kunstsammlungen, Kunstsalons, Musik, Sitten und Gebräuche, der Ideenaustausch mit gelehrten Gesprächspartnern. Er hatte Rousseau gelesen, er besuchte Voltaire in Genf und Haller in Zürich und debattierte mit ihnen auf Augenhöhe.
Am besten allerdings blieb ihm Bern in Erinnerung. Hier verlebte er einige innige Tage mit seiner Freundin Dubois (Identität ungeklärt), die ihn über den Misserfolg bei der Amazone mehr als hinwegtröstete. «Seine Freundin» schien er so aufrichtig zu lieben, dass sogar Pläne zu einer gemeinsamen Zukunft geschmiedet wurden. Aber Casanova wäre nicht Casanova, wenn dann nicht doch alles ganz anders gekommen wäre. Er verliess die Schweiz nach zahlreichen Abenteuern und war wieder auf den Strassen Europas unterwegs, frei und ungebunden (pikanterweise erblickte möglicherweise ein Sprössling Casanovas einige Monate später das Licht der Welt – als Schweizer Bürger oder Bürgerin. Die Dubois gibt ihrem Casanova beim Abschied zu verstehen, dass sie im zweiten Monat schwanger sei, für sein Kind aber gut sorgen wolle …). In Dux notierte er Jahrzehnte später: «Ich verliess Bern in einer sehr natürlichen Trauer. Ich war in dieser Stadt glücklich gewesen und denke noch jetzt niemals ohne Vergnügen an sie.»
Auszüge aus Casanovas «Geschichte meines Lebens», 1785–1798
Drei Stunden nach Leducs Ankunft nahm ich die Post und fuhr nach Schaffhausen und von dort mit einem Mietfuhrwerk nach Zürich, weil es in der Schweiz keine Poststationen gibt. Ich stieg in dem ausgezeichneten Gasthof «Zum Schwert» ab.
Als ich nach dem Abendessen allein in dem Speisesaal der reichsten Stadt der Schweiz sass, wohin ich gleichsam wie aus den Wolken gefallen war – denn ich hatte vorher nicht die geringste Absicht gehabt, nach Zürich zu gehen – überliess ich mich tausend Betrachtungen über meine augenblickliche Lage und mein vergangenes Leben. Ich rief mir meine Unglücksfälle ins Gedächtnis zurück und prüfte mein Verhalten. Ich erkannte gar bald, dass alle Unannehmlichkeiten mir durch meine eigene Schuld zugestossen waren und dass ich fast immer mit meinem Glück Scherz getrieben hatte, wenn es mich mit seinen Gaben überschüttete. Ich hatte mich soeben aus einer Schlinge gezogen, in der ich trotz meiner Unschuld Tod und Schande finden konnte, und ich erzitterte bei diesem Gedanken. Ich fasste den Entschluss, in Zukunft nicht mehr ein Spielball des Glücks zu sein und mich vom Zufall gänzlich unabhängig zu machen. Ich stellte ein Verzeichnis meines Vermögens auf und fand, dass ich hunderttausend Taler besass. Dies genügt, sagte ich zu mir selber, um, vor allen Wechselfällen geschützt, eine sichere Existenz zu führen, und ich werde in einem vollkommenen Frieden das wahre Glück finden! Voll von diesen Gedanken ging ich zu Bett und verbrachte eine köstliche Nacht in wundervollen Träumen. Ich sah mich in einer friedlichen Einsamkeit in Überfluss und Ruhe; mir war’s, als wenn ich mich inmitten einer schönen Landschaft befände, deren Herr ich wäre und wo ich eine Freiheit genösse, die der Mensch vergeblich in der Welt sucht. Natürlich träumte ich; aber in meinem Traum kam es mir vor, als ob ich nicht träumte. Es war für mich eine schmerzliche Enttäuschung, als ich bei Tagesanbruch plötzlich