Zivilisation in der Sackgasse. Franz M. Wuketits

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Zivilisation in der Sackgasse - Franz M. Wuketits

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sein lassen, was er sein will.

      Unsere Natur ist freilich nicht zu beschwindeln. Längst regt sich in vielen von uns das Gefühl, um etwas betrogen zu werden, worauf wir ein Anrecht haben: ein selbstbestimmtes, einigermaßen gutes Leben und ansonsten unsere Ruhe. Natürlich kann ein „gutes Leben“ in der Regel nur mit Arbeit, für die man bezahlt wird, erreicht werden. Doch zielt die heutige Arbeitswelt zunehmend darauf ab, den Einzelnen auszubeuten. Gewiss, in manchen Epochen unserer Geschichte war das nicht anders – wenn man an die Sklaverei denkt, muss man sagen, es war weitaus schlimmer –, aber im 20. Jahrhundert machte sich, einmal abgesehen von den beiden Weltkriegen, doch eine Tendenz zur Verbesserung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen bemerkbar. Davon ist im Allgemeinen nichts mehr zu spüren. Zwar hat sich der Umgangston geändert (politisch korrekte Sprache!), was aber doch nur jene Brutalität gleichsam abfedern soll, die dem Einzelnen heute allerorten ins Gesicht schlägt. In den Tiefen unserer Seele bleiben die Reaktionen darauf nicht aus. In den Industrieländern westlicher Prägung nehmen psychische Erkrankungen stark zu. Der Erwartungsdruck, dem der Mensch in seinem beruflichen, aber auch privaten Umfeld, ja selbst in seiner Freizeit ausgesetzt ist, drückt manchem schwer auf sein Gemüt. Die moderne Leistungsgesellschaft, die sich auch durch Beziehungsarmut und Einbußen des Kommunikationsvermögens kennzeichnet, fordert ihren Tribut.

      Mit anderen Worten, unsere Zivilisation macht uns allmählich krank. Psychologen und Psychotherapeuten haben Konjunktur. Aber niemand, der sich „ausgebrannt“ fühlt, sollte das seine (berufliche) Umgebung wissen lassen. Sonst gilt er schnell als nicht mehr „voll einsatzfähig“, wird als „Versager“ abgestempelt und läuft Gefahr, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und nicht mehr in die „Arbeitswelt“ zurückkehren zu können. Ein wahrer Teufelskreis, in den wir uns da mit unserer Zivilisation neuerdings hineinmanövriert haben! Herkömmliche psychologische Erklärungen und darauf gegründete Therapien, die dem Einzelnen helfen sollen, bleiben aber meist nur an der Oberfläche und dienen bloß der Symptom-Bekämpfung. Man muss der Sache schon auf den Grund gehen, was heißen will, die Natur des Menschen ergründen. Unsere psychische Grundausstattung, erworben in vielen Jahrmillionen, ist auf die Erfordernisse dieser Zivilisation nicht zugeschnitten. Wir Menschen sind Resultate langer stammesgeschichtlicher Entwicklungsprozesse, in und mit denen unser affektiver beziehungsweise emotionaler „Haushalt“ ausgeprägt wurde – in einer Welt aber, die gänzlich anders ausgestattet war als die, in der wir heute leben. Wir haben sie uns selbst geschaffen, ohne dass wir je auch nur ahnten, wohin sie uns bringen wird. Sicher gab es schon vor Jahrzehnten warnende und mahnende Stimmen weitblickender Denker; aber die sind heute entweder weitgehend in Vergessenheit geraten oder man will sie nicht mehr hören.

      Man verstehe mich nicht falsch. Ich will die Welt und das Leben unserer prähistorischen Ahnen keineswegs romantisieren oder verherrlichen. Das wäre auch gänzlich unangebracht. Aber unser Handeln, Denken, Fühlen und Wollen heute sind nicht unmaßgeblich geprägt von jenen in Äonen zementierten Verhaltensweisen, die unsere Vorfahren im Dienste ihres Überlebens zu entwickeln hatten. Nach wie vor geht es freilich in erster Linie bloß um das Überleben, doch sind die Rahmenbedingungen dafür in kürzester Zeit völlig andere geworden. Der heutige Mensch befindet sich in einem undurchsichtigen Geflecht institutioneller und ökonomischer Erfordernisse, welche die Möglichkeiten seines Überlebens entscheidend mitbestimmen und in gleichem Maße seinen eigenen Handlungsradius einschränken.

      Wie ich bereits bemerkt habe, sind vor allem die letzten Jahrzehnte durch eine enorme Entwicklungsbeschleunigung unseres Lebens auf verschiedenen seiner Ebenen gekennzeichnet. Das hängt natürlich mit den modernen Kommunikationstechnologien zusammen, die uns erst in den 1990er Jahren in vollem Umfang zugänglich wurden und die von vielen heute gleichsam wie Rauschdrogen konsumiert werden. Kommunikation und Information, lebenswichtige Elemente unserer Existenz, haben inzwischen eine ins Perverse gesteigerte Qualität erreicht. Nie in der langen Evolutionsgeschichte unserer Gattung hatten so viele Menschen einen so direkten und schnellen Zugang zu so viel Information wie heute, doch nie war die Gefahr einer sehr raschen massenhaften Verdummung so groß wie derzeit. Die Massenmedien (die nicht umsonst so bezeichnet werden) überfluten uns mit sinn- und nutzloser „Information“. Das wäre an sich noch nicht schlimm, würden nicht viele Menschen jeden beliebigen Unsinn glauben und jeder noch so bedeutungslosen Meldung in jedem beliebigen Boulevardblatt allein deswegen Bedeutung zuordnen, weil sie „in der Zeitung steht“. In noch höherem Maße gilt das für das Internet. Die ungeheuren Kommunikationsmöglichkeiten, die uns die moderne Technologie in die Hand gibt, führen letztlich zu einer nie dagewesenen Kommunikationsarmut. Unserer Spezies, die auf Mitmenschlichkeit im kleinen Kreis angelegt ist, werden sie nicht gerecht. Aber vielleicht auch ist diese Spezies, durch ihr eigenes Zutun, zur Verdummung verurteilt …

      Ich bitte den Leser um Geduld, auf alle hier angesprochenen Kennzeichen unserer Gegenwart wird noch ausführlich zurückzukommen sein, und ich werde es nicht bei bloßen Andeutungen bewenden lassen.

      Aber wozu eigentlich dieses Buch? Die Antwort darauf kann schon aus dem Vorwort herausgelesen werden. Ergänzend dazu sei hier noch betont, dass es mir auch darum geht, die Tragweite des modernen Evolutionsdenkens aufzuzeigen. Wenn wir unsere lange Evolutionsgeschichte und die Prozesse, die sich dabei abgespielt haben, ernst nehmen, dann lässt sich schließlich die große Frage beantworten, warum wir Menschen so sind, wie wir sind. Und es lässt sich plausibel machen, dass die heutige Zivilisation diesem unseren „So-Sein“ immer weniger gerecht wird.

       1.

       DER GEBORENE NOMADE

       Der Mensch war für alle Klimate und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt; folglich mussten in ihm mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit liegen.

      Immanuel Kant

      Rund sieben Milliarden Menschen bevölkern heute die Erde. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung weltweit um derzeit über 80 Millionen Menschen pro Jahr. Menschen tummeln sich vorwiegend in Ballungszentren, in Millionenstädten und sogenannten Megastädten, aber man findet sie auch nach wie vor in kleinen Siedlungen; sie bewohnen warme und kalte Regionen und vermögen selbst unter unwirtlichsten Bedingungen (zum Beispiel in der Nordpolregion) zu überleben. In den Jahrmillionen ihrer Evolution haben sich Menschen beziehungsweise „Menschenartige“ allmählich auf allen Kontinenten ausgebreitet und sind heute die einzige Primatenart mit weltweiter Verbreitung. Nur in der Antarktis haben sie sich nicht auf Dauer niedergelassen (Spuren hinterlassen haben sie allerdings auch dort). Dabei begann alles sehr bescheiden. Unsere ältesten Ahnen blieben zunächst auf den afrikanischen Kontinent beschränkt und lebten dort ziemlich unauffällig in Uferwäldern, wo sie sich von Pflanzen und kleineren Tieren ernährten. Später gewann vor allem die Jagd auf größere Tiere an Bedeutung. Schließlich, gemessen mit evolutionären Zeitmaßstäben erst vor Kurzem, wurden Menschen sesshaft und begannen Siedlungen zu bauen – und es wurde ein Prozess in Gang gesetzt, für den es in der Evolutionsgeschichte keine Präzedenzfälle gibt.

      Das vorliegende Kapitel soll Lesern ohne nennenswerte anthropologische und evolutionsbiologische Vorkenntnisse wichtige Hintergrundinformation liefern. Es behandelt – in sehr gedrängter Form – die Herkunft und Entwicklung des Menschen und die Lebensweise unserer steinzeitlichen Ahnen. Wer aber über die Evolution des Menschen bereits hinreichend unterrichtet ist, kann dieses Kapitel getrost überschlagen. Allerdings liefert es Grundlagen für Argumente, die in späteren Kapiteln des Buches noch ihre Rolle spielen werden.

      Der heutige Mensch, Homo sapiens, ist eine von rund dreihundertfünfzig heute noch lebenden Arten der Säugetierordnung Primaten („Herrentiere“). Seine nächsten Verwandten sind Schimpanse, Bonobo (Zwergschimpanse), Gorilla und Orang-Utan. Spätestens seit Charles Darwin (1809 bis 1882) ist an der „äffischen“

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