Zivilisation in der Sackgasse. Franz M. Wuketits

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Zivilisation in der Sackgasse - Franz M. Wuketits

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unseren heutigen „Menschentyp“ oder unterschied sich jedenfalls von diesem kaum. (In der heutigen Welt hätte ein Cro-Magnon-Kind alle Voraussetzungen für einen Physikprofessor, einen Lokomotivführer oder einen Bankräuber.) Möglicherweise konkurrierte der Cro-Magnon-Mensch mit dem Neandertaler um Nahrung und ging aus dieser Konkurrenz schließlich als Sieger hervor. Vielleicht auch hat er seinen „Vetter“ – eben als Konkurrenten – ausgerottet. (Völkermorde begleiten ja auch unsere weitere Geschichte.) Vielleicht aber haben sich Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen miteinander vermischt, sodass in uns allen heute noch Neandertalerblut fließt …

      Wie man sieht, geben uns die eigene Herkunft und unsere Evolutionsgeschichte noch einige Aufgaben auf, die zu bewältigen vielleicht viele Jahre oder Jahrzehnte dauern wird. Aber fest steht, dass Menschen aus „affenartigen“ Vorfahren hervorgegangen sind, der heutige Mensch das Resultat eines mehrere Jahrmillionen umfassenden komplexen Prozesses darstellt und dass er die Zeugnisse seiner Vergangenheit unauslöschlich mit sich herumträgt. Nicht zu zweifeln ist auch daran, dass Menschen während der längsten Zeit ihrer Evolution als Nomaden oder Halbnomaden herumgezogen sind. Jagend und sammelnd waren sie den Unbilden der Natur meist hilflos ausgeliefert und fanden sich in keiner besseren (oder schlechteren) Situation wieder als alle übrigen Tiere auch. Dann aber, vor erst etwa fünfzehntausend Jahren – welch unbedeutender Zeitraum auf der Zeitskala der Evolution! –, geschah etwas recht Eigenartiges: Menschen wurden sesshaft, begannen Siedlungen zu bauen, Pflanzen und Tiere zu züchten (anstatt sie als Wildformen zu sammeln beziehungsweise zu pflücken und zu jagen) und komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften zu entwickeln. Es erfolgte der als neolithische oder jungsteinzeitliche Revolution bezeichnete Übergang von der aneignenden zur produzierenden Lebensweise, und zwar zunächst im Vorderen Orient, um aber später auch auf andere Regionen der Erde überzugreifen.

      Selbstverständlich erfolgte dieser Übergang nicht aus heiterem Himmel, von heute auf morgen. Jede Revolution hat ihre – teils lange – Vorgeschichte. Verglichen mit dem langen Zeitraum, in dem Menschen als Jäger und Sammler lebten, erfolgte der Prozess der Sesshaftigkeit allerdings doch recht schnell. Warum aber wurden Menschen dauerhaft sesshaft? Warum begannen sie Ackerbau und Viehzucht zu betreiben? Anfangs muss das eine sehr mühevolle Angelegenheit gewesen sein, Ernteerträge und Erträge aus der Viehzucht waren zunächst einmal wohl ziemlich mager. Seine Nutztiere werden immer wieder auch Raubtieren willkommene Beute gewesen sein (schließlich waren auch Bauern in historischer Zeit noch häufig mit „Raubzeug“ konfrontiert). Die Sesshaftigkeit muss dem Menschen zunächst mehr Nach- als Vorteile gebracht haben. Zur Frage, warum sich denn Menschen nach so langer Zeit des Herumwanderns an einzelnen Orten dauerhaft niederzulassen begannen, wurden schon verschiedene Theorien entwickelt.

      Nun leuchtet es durchaus ein, dass Lebewesen, welcher Art auch immer, an einem Platz verweilen, an dem sie üppige Nahrungsressourcen vorfinden. Wenn sich in unseren Breiten im Winter irgendwo Vögel scharen, dann dürfen wir stillschweigend annehmen, dass das vorgefundene Futter ihnen einen Anreiz für ihre Ansammlung bietet. Wildschweine drängen heute immer wieder in Vororte von Großstädten beziehungsweise Stadtaußenbezirke vor, weil sie sich dort an Gartenfrüchten und Abfällen gütlich tun können. Zum Ärger von Haus- und Gartenbesitzern fallen sie über Mülleimer, Komposthaufen und Gemüsebeete her. Warum sollten sie es sich bei der Nahrungsbeschaffung schwer machen, wenn es auch einfach geht?! Hat aber der Mensch, als er sich ursprünglich an bestimmten Orten niederließ, dort auch üppige Nahrung vorgefunden, die ihn zum ständigen Verweilen einlud?

      Man nimmt oft an, dass der durch klimatische Veränderungen verursachte Mangel an Jagdwild während der letzten Eiszeit den Menschen dazu gezwungen habe, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Der Mensch entdeckte Wildpflanzen, auf die Vogelschwärme ihn aufmerksam machten, als sie zur Reifezeit einfielen. Den Ernährungswert dieser Pflanzen lernte der Mensch bald zu schätzen und begann sie als Getreide zu domestizieren. Er lernte Techniken, das Getreide zu bewahren und ganzjährig zu nutzen. Dies aber hatte zur Voraussetzung, dass er an Ort und Stelle blieb, Siedlungen – wenngleich zunächst in einfachster Form – errichtete. Da aber auch andere Tiere, vor allem Rinder, Ziegen und Schafe, das Getreide als Nahrungsquelle schätzen, kamen sie ihm als „Ernteräuber“ in die Quere. Dasselbe gilt auch für Schweine, die zwar nicht unbedingt Gerste oder Weizen fressen, sich aber, wie gesagt, an vom Menschen produzierten Abfällen delektieren. Nun wäre es, so kann man weiter argumentieren, für den Menschen auf Dauer zu mühsam gewesen, sich alle diese Tiere vom Leib zu halten, um seine Nutzpflanzen zu schützen. Besser war es, die Tiere sozusagen ins Haus zu holen und sie ebenfalls zu nutzen. Welch enorme Bedeutung die genannten Tiere – heutzutage vor allem Rinder und Schweine – als Nahrungslieferanten im Lauf der Zeit erlangt haben, bedarf keiner besonderen Erwähnung.

      In den Augen des Münchener Zoologen und Evolutionsbiologen Josef Reichholf greift diese Erklärung für das Sesshaft-Werden des Menschen allerdings zu kurz. Er bringt daher Alkohol ins Spiel. Aus dem Vergleich heutiger und aus der Geschichte überlieferter Kulturen wird erkennbar, dass überall – in geringem oder höherem Maße – Rauschmittel, darunter Alkohol, ihre Rolle spielen und spielten. Nach Reichholf war es nicht der Mangel an Jagdwild, der den Menschen zur Sesshaftigkeit veranlasste. Es war die Entdeckung, dass aus bestimmten Pflanzen alkoholische Getränke hergestellt werden können, deren gemeinschaftlicher Genuss soziale Beziehungen zu stärken und die friedliche Beilegung von Konflikten zu erleichtern vermag. Daher soll Getreide erst sukzessive für die Ernährung genutzt, ursprünglich aber für die Herstellung von Bier verwendet worden sein. Also, im Anfang war der Rausch. Der musste sich allerdings in Grenzen gehalten haben, weil eine dauerhaft alkoholisierte Gesellschaft nicht lebensfähig gewesen wäre.

      Das Sesshaft-Werden des Menschen war sicher ein sehr verwickelter Vorgang, an dem mehrere Faktoren beteiligt waren; und warum nicht auch Bier und Wein?! Sicher aber muss die Sesshaftigkeit unserer Spezies schon bald Vorteile gebracht haben, weil sie sich andernfalls – nur mit Nachteilen verbunden – als Lebensweise nicht bewährt hätte. Nachteile werden in der Evolution mittel- bis langfristig nicht belohnt. Gegenüber den Nomaden und Halbnomaden können die Sesshaften in der Gesamtbilanz ein ökonomisches Plus verbuchen. Reichholf (2012, S. 283) schreibt dazu Folgendes:

       Menschen, die sich von den Früchten des Feldes und ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren, brauchen kaum ein Zehntel des Lebensraumes, den Wanderhirten benötigen. Menschengruppen, die sich von Jagen und Sammeln ernähren, nehmen etwa das Hundertfache von Ackerbauern pro Kopf an Fläche in Anspruch. Hieraus ergibt sich das Anwachsen der Weltbevölkerung ganz von selbst. Gesteigerte Produktion von Nahrung ermöglicht das Überleben von mehr Menschen.

      Aber wie in der Evolution so oft erweisen sich auch hier Vorteile von heute als Nachteile von morgen. Die problematischen Spätfolgen der Sesshaftigkeit sind inzwischen spürbar. Sie zeigen sich in einer rasanten, ungebremsten Bevölkerungsvermehrung, einer Überproduktion von Nahrungsmitteln auf der einen Seite, Hungersnöten auf der anderen.

      Zwischen den Siedlungen der ersten Ackerbauern und Viehzüchter und den heutigen Megastädten liegen Welten. Doch der Prozess der Urbanisierung war, einmal in Gang gebracht, anscheinend nicht zu bremsen. Er entwickelte eine Eigendynamik, die niemand vorhersehen konnte, die aber den Menschen nun in seinem Wesen zu entwurzeln droht. Das ist Gegenstand späterer Kapitel des vorliegenden Buches. Zuvor müssen wir uns noch einer weiteren Seite unseres Wesens zuwenden, die tief in der Evolutionsgeschichte unserer Gattung verankert ist.

       2.

       DAS GEBORENE KLEINGRUPPENWESEN

       So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnt, so sehr hangt er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von anderen ab.

      Johann

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