Toter Regens - guter Regens. Georg Langenhorst

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Toter Regens - guter Regens - Georg Langenhorst

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und Thiele hatten sich Plastiküberzieher über die Schuhe gezogen und die Gummihandschuhe über die Hände gestreift, die ihnen der Streifenbeamte Beckers eilfertig entgegengehalten hatte. Vorsichtig betraten sie das große Dienstzimmer des Regens. ‚Kalt‘, dachte Thiele als Erstes. ‚Streng‘, überlegte Kellert. Das Grundprinzip des Raums erschloss sich auf den ersten Blick. Hier herrschte Ordnung, kalkuliert, diszipliniert und ständig überprüft. Mobiliar, Bücher, Ausstattung – all das erweckte den Anschein von Funktionalität und Effektivität. Allein das Aquarium überraschte. Keinerlei Pflanzen. Kaum Hinweise auf persönliche Gegenstände des Benutzers dieses Raums.

      All diese Eindrücke schossen den beiden Kriminalbeamten in kurzen Augenblicken durch den Kopf. Ihre Aufmerksamkeit wurde sofort darauf gestoßen, was diese Ordnung durchbrach. Brutal durchbrach, radikal. Zwischen Schreibtisch und Sitzgruppe mochten vier, fünf Meter liegen. Genau hier befand sich die leicht gekrümmt daliegende männliche Leiche. Das Gesicht vornüber in Richtung Schreibtisch, die Beine zur Seite verdreht, sah der Mann in schwarzem Anzug und mit weißglänzendem Kollar auf den ersten Blick immer noch aus, als wäre er unglücklich gefallen, könnte sich aber jeden Moment wieder erheben.

      Der zweite Blick ließ keinen Zweifel zu: Dieser Mann war tot. Auf dem Hinterkopf zeigte sich eine klaffende, blutverkrustete Wunde. Um Kopf und Oberkörper des Leichnams hatte sich eine große Blutlache gebildet, die teils in den Teppich, teils in das schon etwas abgenutzte Parkett eingezogen war.

      Vorsichtig bewegten sich die beiden Kriminalbeamten durch den Raum. Ihrem routinierten Blick entging fast nichts. ‚Alles perfekt aufgeräumt, kein Müll, kein querliegender Gegenstand, nichts‘, notierte sich Kellert in sein inneres Wahrnehmungsprotokoll. ‚Keine auf den ersten Blick erkennbare Spur von einem Besucher in diesem Raum.‘ „Tatwerkzeug?“, raunte er zu Thiele hinüber, aber der zuckte nur, die Augenbrauen hochziehend, mit den Schultern.

      Auch nach längerem Suchen fand sich nichts, was als Tatwerkzeug hätte in Frage kommen können. Blutspuren zeigten sich nur rund um das Opfer. Weder in Richtung Tür noch Fensterwand ließen sich weitere Ungewöhnlichkeiten feststellen. Dass sämtliche Fenster geschlossen waren, dass die Tür nicht beschädigt war, hatten sie ganz zu Anfang sichergestellt. Der Täter – ‚oder die Täterin!‘, ermahnte sich Kellert, vorschnelle Fehlschlüsse zu vermeiden – war offensichtlich ganz normal durch die Zimmertür hinein- und ebenso auch wieder hinausgelangt.

      Plötzlich blieb Kellert ruckartig stehen, schnupperte. Thiele blickte ihn entgeistert an. ‚Was hat er denn nun schon wieder?‘, dachte er. Gleichzeitig kannte er seinen Chef inzwischen gut genug, um zu ahnen, dass ihm etwas aufgefallen war.

      „Riechst du nichts?“, fragte der Kriminalhauptkommissar seinen Mitarbeiter. Der versuchte nun seinerseits, irgendeine Witterung aufzunehmen, blieb dabei aber erfolglos. „Nichts Außergewöhnliches!“, gab er zurück. „Da hängt doch eine kleine Spur von Wachs und Rauch in der Luft“, meinte Kellert und wies auf mehrere Punkte im Raum. „Und schau: Da sind mehrere große Kerzen. Die werden wohl noch vor Kurzem gebrannt haben. Wer hat die ausgemacht? Das möchte ich gern wissen!“

      Thiele zuckte mit den Schultern. Er konnte beim besten Willen nichts riechen. Aber wenn sein Chef Recht hätte – ‚und das hat er ja fast immer!‘, gestand er sich ein –, dann war das schon eine berechtigte Frage. Aber wem könnte man sie stellen?

      „So, wir übernehmen!“ Mit besitzergreifendem Getöse betraten drei ganz in weiße Schutzanzüge gekleidete Kollegen der kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung den Raum und unterbrachen unsanft sämtliche Gedankengänge der dort agierenden Polizisten. „Darf ich bitten, Bernd?!“ Der Leiter des Teams, Thomas Kleinheister, komplimentierte die Kriminalbeamten fast schon gewaltsam aus dem Raum hinaus.

      Ein solches Vorgehen waren diese aber genauso gewohnt wie Kleinheisters Marotte, Dominik Thiele gar nicht eigens zu beachten, geschweige denn zu erwähnen, sondern als eine Art Anhang von Bernd Kellert zu betrachten. Das ging Thiele oft so, verschaffte ihm aber Freiheiten, die er immer wieder nutzte. Anfangs hatte er sich über diese vermeintliche Geringschätzung geärgert, inzwischen erkannte er die Chancen des Agierens im Windschatten seines Chefs.

      Kriminalhauptkommissar Kellert seinerseits kannte seinen Freund Kleinheister nun schon seit fast fünfundzwanzig Jahren und wusste, wie man seine bärbeißig-selbstbewusste Art zu nehmen hatte. Vor allem aber wusste er, dass dieser seine Arbeit äußerst penibel und zuverlässig zu erledigen pflegte. Deshalb folgten Kellert und Thiele der sanften Gewalt und verließen das zum Tatort gewordene Dienstzimmer des Regens. „Unbedingt die Fingerspuren checken!“, gab Kellert dem Chef der KTU noch mit auf den Weg, einen Ratschlag, den dieser nur mit wortlosem Kopfschütteln und Verziehen des Mundes kommentierte. Als ob er das je vergessen hätte!

      „Und jetzt?“, fragte Thiele, als sie sich der Überzieher entledigt hatten. „Ich werde mir jetzt erst mal gründlich die Hände waschen gehen, und dann sprechen wir mal mit diesem … äh … Subregens. Der hat uns sicher einiges zu erzählen. Das hier“ – Kellert wies mit dem Daumen der linken Hand über seine rechte Schulter zurück – „wird schwierig. Ich glaube nicht, dass Kleinheister und Co. uns dieses Mal wirklich weiterhelfen. Sagt mir mein Gefühl.“ Und das, so wusste Dominik Thiele nach dreijähriger Zusammenarbeit inzwischen, trog den Hauptkommissar der Mordkommission Friedensberg fast nie.

      3

      „Nun kommen Sie! Bitte reißen Sie sich zusammen. Sie können und müssen uns wirklich helfen!“ Bernd Kellert blickte auf den Mann hinab, der wie ein Häufchen Elend auf einem Holzstuhl saß. Zusammen mit Dominik Thiele befanden sie sich in einer Art Besprechungszimmer, drei Flure vom gleichfalls ebenerdigen Dienstzimmer des Regens entfernt. Sparsam ausgestattet – ein Tisch, vier Stühle, zwei Seitenregale, darauf eine Bibel und ein Dutzend bunt eingebundener schmaler Gedichtbände, alle von dem gleichen Autor, Andreas Knapp – war dies abgesehen von einem schlichten Holzkruzifixus ein kleiner, völlig schmuckloser Raum.

      Maximilian Arenhövel, der Subregens des Priesterseminars, hatte auf ihr Eintreten zunächst fast gar nicht reagiert, sie kurz begrüßt, ansonsten aber wortlos und glasig vor sich hingeschaut, in sich gekehrt, niedergedrückt. Er mochte Mitte, vielleicht Ende dreißig sein. Sein etwas schwammiger, zur Dickleibigkeit neigender Körper schien ihm eher eine Last zu sein. Die unordentlichen, halblangen, zum Teil lockigen braunen Haare klebten an den schweißnassen Schläfen. Auch er trug einen schwarzen, wenn auch an den Seiten leicht kneifenden Anzug und einen steifen Kollar. ‚Offenbar eine Art Uniform hier‘, dachte Thiele.

      Nach zwei, drei höflichen Versuchen, Arenhövel zu befragen, war Kellert der Geduldsfaden gerissen und er hatte eine etwas schärfere Tonart eingeschlagen. Und erstaunlich: Der Angesprochene zuckte zusammen, straffte sich und blickte sein Gegenüber erstmals an. Diese Form der Ansprache konnte offensichtlich seine Apathie durchstoßen. ‚Gott sei Dank‘, fuhr es Kellert durch den Kopf. Thiele beobachtete den Vorgang mit Interesse. ‚Das hätte ich mich nicht getraut‘, dachte er bei sich, ‚wieder was gelernt!‘

      „Entschuldigen Sie, Sie haben ja völlig Recht!“, stammelte Arenhövel mit einer hohen, eher jungenhaften Stimme. „Aber ich bin völlig durcheinander. Der Regens – tot! Das kann doch einfach nicht wahr sein! Wer macht denn so was! Wie soll ich das den Seminaristen beibringen? Und wie dem Bischof? Und ich kann mir schon vorstellen, wie sich die Presse auf den Fall stürzen wird. Die suchen doch nur danach, uns wieder was ans Zeug zu flicken.“ Er blickte völlig verzweifelt und sichtlich überfordert auf Kellert, als erhoffte er sich von diesem wirklich Antworten auf seine Fragen und Hinweise auf Auswege aus der Situation. Thiele hatte auch er bislang völlig ignoriert.

      „Bitte, Herr Arenhövel. Wir brauchen dringend einige Auskünfte von Ihnen!“, versuchte Kellert sein Gegenüber zur Konzentration zu mahnen. Er nahm einen der beiden übrigen freien Stühle, drehte ihn, setzte sich falsch herum

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