Toter Regens - guter Regens. Georg Langenhorst
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Punkt elf. Ein aufgeregtes Stimmengewirr drang durch die Türen des Speisesaals nach draußen auf den Flur. Subregens Maximilian Arenhövel öffnete die Tür von innen, erkannte den Kommissar und winkte ihn zu sich. ‚Dann hat er also doch schon einige Informationen weitergegeben. Na, nicht so schlimm. Hoffentlich!‘, fuhr es Kellert durch den Sinn.
„Alle da?“, raunte er Arenhövel zu. Der nickte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung, fügte dann aber leise hinzu: „Bis auf Spiritual Dietz natürlich. Und unser Repetent, Marcus Rühle, fehlt auch. Aber der kommt und geht sowieso, wann und wie er Lust hat.“ Kellert blickte ihn fragend an. „Dass erkläre ich Ihnen später“, meinte Arenhövel und wies auf die Tür vor ihnen. In der Tat, jetzt ging es um etwas anderes. Kellert zögerte kurz und betrat dann den großen Raum, der normalerweise als Speisesaal oder Versammlungsraum für größere Anlässe aller Art diente.
Sofort legte sich das Gemurmel. Gespannte, unsichere, ängstliche Augenpaare blickten ihm entgegen. Kellert hatte seine Sinne darauf trainiert, gerade größere Menschengruppen rasch zu scannen, einzuschätzen, abrufbar abzuspeichern. Vor ihm mochten um die dreißig Personen sitzen. Man hatte die Tische an der Hinterwand des geräumigen Saales zusammengerückt, der problemlos die vierfache Menge an Menschen aufnehmen konnte. Mindestens.
Auf locker gruppierten Stühlen saßen – das war nur wenig überraschend – vor allem Männer. Vier ältere Ordensfrauen in einfach geschnittenem schwarzweißem Habit und mit einer das Haar bedeckenden Haube hielten sich rechts im Hintergrund. Bei ihnen saßen einige weitere Frauen, wahrscheinlich Hausangestellte. Drei einfach gekleidete, ebenfalls ältere Männer – ‚mindestens fünfzig Jahre alt‘ schätzte Kellert – hatten sich hinten links so zusammengehockt, dass ein Wunsch zur Abgrenzung von den restlichen Menschen im Raum deutlich wurde. ‚Arbeiter, nehme ich an‘, dachte Kellert. ‚Was weiß ich: Hausmeister, Gärtner …‘ Zwei mit schwarzen Anzügen offiziell gekleidete Herren – beide mit dem Priesterkragen – standen in der Nähe der Ordensfrauen. Sie betrachteten ihn mit betont skeptischer Miene, bemerkte Kellert.
Im Vordergrund aber tummelten sich knapp zwanzig junge Männer. Bei genauem Hinsehen musste Kellert seine pauschale Ersteinschätzung ‚jung‘ jedoch revidieren. Einige waren jung, ja: ‚Milchbubis‘, dachte Kellert und musste innerlich grinsen. Die sahen aus, als wären sie gerade aus der Schule entlassen. Andere waren ganz eindeutig erwachsene Männer, manche vielleicht schon in den Dreißigern.
Zwei Inder und zwei Schwarzafrikaner verstärkten die Vielfalt. Alle möglichen Typen waren vertreten: dicke und dünne, große und kleine, glattrasierte und bärtige. ‚Eine eher unscheinbare, ganz normale Truppe‘, ging es Kellert durch den Sinn. Was sie verband: Sie waren unauffällig gekleidet, Jeans, Pullover, wenige mit Hemd und Sakko, die Inder und Afrikaner in Anzügen. Trotzdem: Keiner wäre auf den ersten Blick aufgefallen als ‚Priesterseminarist‘, so die offizielle Bezeichnung, die Kellert sich zuvor noch vom Subregens hatte erläutern lassen.
‚Die wollen also alle Priester werden. Sich der Ehelosigkeit verpflichten. Heute in dieser Kirche! – Kaum vorstellbar! Wie fasst man einen solchen Beschluss für sein Leben? Wie sicher ist man in der Entscheidung? Und wie stellt man selbst fest, ob man für diesen Lebensweg geeignet ist? Wie stellen andere das fest; die, die für die Ausbildung verantwortlich sind?‘
Lange Zeit verweilte Kellert bei diesen Gedanken nicht. Er räusperte sich kurz. Blieb dann mit in leichtem Abstand nebeneinander durchgedrückten Beinen, aufrechter Haltung und leicht vorgestrecktem Kinn vor der Menschengruppe stehen und ergriff nach einer kurzen Vorstellung durch Subregens Arenhövel das Wort: „Meine Damen“ – er nickte mit einem kurzen Lächeln den Ordensfrauen zu – „und Herren. Sie wissen, dass Ihr Regens, Dr. Norbert Görtler, heute Nacht in seinem Dienstzimmer ermordet wurde. Der Tod trat gegen zehn Uhr ein.“ Aufgeregtes Gemurmel kommentierte diese Information. „Ruhe bitte! Ich möchte Sie nur so kurz wie nötig stören. Wir haben alle genug zu tun. Es ist ganz einfach so: Wir von der Polizei brauchen Ihre Mithilfe. Also: Haben Sie irgendetwas beobachtet, was den polizeilichen Ermittlungen dienlich sein könnte?“
Er blickte auf die Menschen vor sich, die schlagartig verstummt waren. Viele Augen vermieden den Kontakt zum Kommissar, blickten auf den Boden oder zur Seite. Er wartete, schaute noch einmal ermutigend in die Runde. Keine Reaktion! „Oder vielleicht wissen Sie etwas über Motive, die zu dieser furchtbaren Tat geführt haben könnten. Bitte nehmen Sie mit mir Kontakt auf! Ich lasse meine Karte hier.“ Er drehte sich nach rechts, ging ein paar Schritte und legte mehrere Exemplare der Kärtchen mit seinen Kontaktdaten auf einen niedrigen Tisch, der neben der Haupteingangstür stand. Dabei ließ er, den Blick zur Seite gewandt, die Gruppe nicht aus den Augen. Dann nahm er wieder seine Ausgangsposition ein.
„Ich verstehe, dass Sie jetzt, so kurz nach dieser für Sie schockierenden Nachricht, nichts sagen können. Auch dass Sie vielleicht hier in der Runde lieber schweigen. Aber bitte denken Sie daran: Wir alle haben ein gemeinsames Interesse, den Fall so bald wie möglich aufzuklären. Glauben Sie mir: Sie selbst und Ihr Haus hier werden keine Ruhe haben, bis der Täter oder die Täterin gefasst ist. Lassen Sie nichts nach außen dringen, was dort nicht hingehört. Vermeiden Sie Informationen und Hinweise an die Presse. Die wartet nur auf einen neuen Kirchenskandal, liefern Sie ihr nicht das Futter! Ich verspreche Ihnen meinerseits, so vorsichtig und diskret wie möglich zu ermitteln.“
Erneut blickte er über die Gruppe. Schwer einzuschätzen, wie seine Worte bei den Menschen vor ihm ankamen. Er musste noch einmal nachlegen: „Bitte! Bedenken Sie, es geht um Mord! Ich werde viele von Ihnen von mir aus ansprechen. Kommen Sie aber auch auf mich zu! Jeder noch so kleine Hinweis kann uns nützen. Ich muss verstehen, was den Täter angetrieben hat.“
Subregens Arenhövel blickte bestätigend nickend in die Runde. „Der Herr Kommissar hat Recht. Wir müssen die Polizei unterstützen, jeder so gut er kann“, fügte er hinzu. Kellert blickte ein letztes Mal umher, mit klarem, scharfem Blick. „Und noch etwas: Sollte sich der Täter unter Ihnen befinden …“ – ein Sturm lauter Entrüstung übertönte die Stimme des Kommissars. Man hörte Wortfetzen wie „ungeheuerlich“, „der glaubt doch wohl nicht wirklich …“, „hä, wie: unter uns?“. Kellert kannte solche Momente. Er konnte seiner Stimme erstaunliche Lautstärke verleihen: „He!“ Rasch wurde es wieder ruhig. „Bitte! Ich habe gesagt: Sollte sich der Täter unter Ihnen befinden, dann rate ich ihm dringend: Legen Sie ein Geständnis ab. Je eher, desto besser! Sie werden die Last der Tat nicht tragen können, glauben Sie mir. Das ist nicht mein erster Mordfall.“
Wieder blickte er in die Runde, die schockstarr verstummt war. Kaum einer der Anwesenden suchte seinen Blick. Einen letzten Satz hatte er sich aufgespart. Seine Stimme wurde leise und hart: „Ach ja! Und ich habe noch jeden meiner Mordfälle aufgeklärt. Jeden!“ Er griff zur Türklinke, öffnete die Tür, verließ den Raum. Lauschte kurz auf das Schweigen, das seinem Abgang folgte. Dann schwoll das Gemurmel wieder an, wurde laut und lauter. Zufrieden grinsend und kaum merklich nickend machte er sich auf den Weg.
5
„So, da kommt ja unser KK!“ Jovial und breit grinsend klopfte ihm Kriminalkommissar Winfried Sacherer, sein Kollege aus der Abteilung Eigentumsdelikte, auf die Schulter. Er und Kellert waren einige Zeit lang befreundet gewesen, diese Beziehung hatte sich aber in der letzten Zeit spürbar abgekühlt. Dieses war wieder einmal einer der Momente, in dem Kellert deutlich wurde, warum das so war.
‚Es gibt Menschen, die einfach kein Gespür für den Abstand haben, den man hält‘, dachte Kellert. ‚Sacherer ist ein solcher Typ. Der kommt dir körperlich einfach zu nah. Schiebt seine etwas zu lange Nase in dein Gesichtsfeld.