Lebendige Seelsorge 6/2016. Erich Garhammer
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Das gefiel dem jungen Leser, dem Mönch Martin Luther: „Hoc nota tibi“ schrieb er zu diesen Ausführungen (WA 9,104,11). Und gerade einmal ein oder zwei Jahre später spitzte er diese Erkenntnis zu: „1. Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte, als er sprach: ‚Tut Buße‘ usw., dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei. 2. Dieses Wort kann nicht in Bezug auf die sakramentale Buße (d. h. auf Sündenbekenntnis und Genugtuung, die durch das Priesteramt vollzogen wird) verstanden werden“ (WA 1,233,10-13), so lauteten die ersten beiden der fünfundneunzig Thesen gegen den Ablass, die er am 31. Oktober 1517 den zuständigen Bischöfen zusandte.
Die Konfrontation, die er damit einläutete, war zunächst eine ganz und gar innermittelalterliche: die zwischen innerlicher und äußerlicher Frömmigkeit, zwischen Mystik und schnödem Ablassverkauf.
DIE GEGNER FRAGEN NACH DEM PAPST
Dabei aber blieb es nicht, und das lag keineswegs an Luther allein. Zwar hatte er durchaus manche Spitzen gegen den Papst in seine Thesen eingebaut – aber zur grundlegenden Hinterfragung des Papsttums trieb ihn die Reaktion seiner Gegner, die rasch genau die Frage nach Kirche und Papsttum in den Mittelpunkt stellten. Charakteristisch ist die Stellungnahme von Silvester Prierias, dem Magister sacri Palatii, der in Rom mit dem Prozess gegen Luther betraut wurde und diesem in seinem „Dialogus“ entgegenhielt: „Wer sich nicht an die Lehre der römischen Kirche und des Papstes hält als die unfehlbare Glaubensregel, von der auch die Heilige Schrift ihre Kraft und ihre Autorität bezieht, ist ein Häretiker“ (Dokumente zur Causa Lutheri (1517-1521). Bd. 1 hg. v. Peter Fabisch und Erwin Iserloh, Münster 1988, 55). Das war nun keineswegs offizielle römische Lehre, es war vielmehr eine Extremposition innerhalb der spätmittelalterlichen Möglichkeiten. Aber es wurde mit der Autorität des römischen Hoftheologen vorgetragen – und damit waren die Weichen für eine Verlagerung des Konflikts gestellt. Um rechte Buße ging es schon bald kaum mehr. Es ging um Macht. Darum, wer am Ende in der Kirche die letzten Entscheidungen zu treffen hatte.
Nicht allein Prierias im fernen Rom drehte an dieser Schraube, sondern auch im weit näheren Ingolstadt Johannes Eck, der noch im Frühjahr 1517 um Luthers Freundschaft geworben hatte. Diese Annäherung aber hatte ein rasches Ende genommen, als Eck die Thesen gegen den Ablass zu Gesicht bekam. Er hatte gute Gründe, sich durch einzelne Thesen direkt angegriffen zu fühlen. Dies mag der Auslöser dafür gewesen sein, dass er von nun an Luthers erbittertster und auch scharfsichtigster Gegner wurde. Privat und öffentlich griff er den Wittenberger an, bestritt dessen Ablassverständnis und trug so erheblich dazu bei, dass aus der Konfrontation zwischen zwei unterschiedlichen mittelalterlichen Optionen die zwischen päpstlicher Kirche und reformatorischer Bewegung wurde.
Das zentrale Ereignis in diesem Zusammenhang war die Leipziger Disputation im Juni und Juli 1519. Zunächst hatte sie der Auseinandersetzung Ecks mit Luthers Kollegen Andreas Karlstadt gelten sollen, bald aber stand das Gegenüber zu Luther im Mittelpunkt, und es war Eck, der den Wittenberger vor sich hertrieb. Als die Debatte sich um den Primat des Papstes drehte, legte Eck seinem Kontrahenten Sätze von Jan Hus vor, die schon 1415 auf dem Konzil von Konstanz verurteilt worden waren – und Luther blieb gar nichts anderes übrig, als anzuerkennen, dass es sich hier um ganz christliche Sätze handelte. Das zog aber eine andere Einsicht nach sich: „Also gibt man uns ins Maul, daß wir, wir wollen oder wollen nit, sagen müssen: Das Concilium hat geirret“ (WA.B 1,471 [Nr. 192,218f]), so hat er später seinem Landesherrn geklagt.
Damit hatte Eck Luther genau dort, wo er ihn haben wollte: Dass der Papst irren konnte, war keine Sensation, dass auch das Konzil irren konnte, war nicht neu – aber beides zusammengenommen, machte deutlich, dass Luther keiner innerweltlichen kirchlichen Instanz mehr zubilligen konnte und wollte, definitiv über Glaubensfragen zu entscheiden. Da blieb nicht mehr viel übrig, und Melanchthon zog bald die Konsequenz: Allein die Schrift enthielt, was Christinnen und Christen um ihres Heils Willen glauben sollten. Dass dies auch eine negative Seite hat, dämmerte Luther alsbald: Die Leipziger Disputation gab ihm Anlass im Papsttum den Antichrist selbst zu sehen, da es sich, wie in 2 Thess 2,4 angekündigt, über Gott und Gottesdienst erhebe: nämlich über die Heilige Schrift.
Mit diesen Entwicklungen im Sommer und Herbst 1519 gingen die Wege auseinander: Die Spannungen, die im 15. Jahrhundert noch in einer Kirche zusammengehalten worden waren, verfestigten sich zu einem Gegenüber, innerhalb dessen man sich gegenseitig ausschloss: Häretiker hier, Antichrist dort.
BANNANDROHUNGSBULLE UND REFORMATORISCHE HAUPTSCHRIFTEN
Eck hatte die Vorlage, um den zwischenzeitlich mit Rücksicht auf die Kaiserwahl unterbrochenen Prozess gegen Luther neu zu beleben – am 15. Juni 1520 mündete dies in die Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“, der konsequent, weil Luther den Widerruf verweigerte, im folgenden Jahr die Exkommunikation folgte. Umgekehrt war es aus Luthers Sicht folgerichtig, auf seiner Position zu beharren, ja, sie noch weiter zu entfalten.
Das Jahr 1520 erlebte dies: In der Schrift „De captivitate Babylonica“ zog Luther die Konsequenzen seines Schrift- und Gnadenverständnisses für die sieben Sakramente der mittelalterlichen Kirche, von welchen er allein Taufe und Abendmahl, allenfalls noch die Buße als schriftgemäß anerkennen konnte, und in der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ entfaltete er in brautmystischen Bildern seine Lehre von der Gnade Gottes: „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam.“ (WA 7,25,26-28). Breiten Raum nahm in dieser Schrift auch die Lehre vom Priestertum aller Glaubenden ein, die ihrerseits ihre Wurzeln bei Johannes Tauler und dessen Vorstellung hatte, dass jede andächtige Christin und jeder andächtige Christ ein Priester sei.
Eben diese mystisch geformte Lehre aber wurde in der frühesten der drei großen Schriften zum Angelpunkt für Reformmaßnahmen: Damit, dass „was ausz der tauff krochen ist […] sich rumen“ dürfe, „das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey“ (WA 6,408,11f), begründete Luther das Recht der Obrigkeit, reformatorische Maßnahmen durchzuführen. Schlagartig zeigt sich darin, wie die unterschiedlichen Spannungen des späten Mittelalters bei ihm ihre Wirkung entfalteten: Unübersehbar hatte sein Unmut dort eingesetzt, wo sich dergleichen schon bei vielen Menschen des späten Mittelalters geregt hatte: beim Gegenüber von innerlicher und äußerlicher Frömmigkeit. Von hier aus entwickelte er den Gedanken, dass das Gegenüber von Laien und Klerikern, das so prägend für das späte Mittelalter gewesen war, sein Recht verloren hatte. Und genau daraus wurde der Hebel, um die dezentralen Mächte, die Fürsten des Reichs, zu ermutigen, sich gegen die päpstliche Zentrale zu wenden. So lassen sich seine Gedanken als Transformation spätmittelalterlicher Theologie und Frömmigkeit beschreiben – die Entwicklung der frühen Jahre der Reformation aber führte in einem Hin und Her zwischen Luther und seinen Gegnern dazu, dass aus dem, was eine Spannung innerhalb der Kirche gewesen war, eine unüberbrückbare Konfrontation wurde – und schließlich die Existenz zweier Kirchen.
LITERATUR
Leppin, Volker, Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 86), Tübingen 2015.
Ders., Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln,