Lebendige Seelsorge 6/2016. Erich Garhammer
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Die Schuld am Bruch wurde so auf beide Seiten verteilt, wobei die Weichenstellungen seit dem 19. Jahrhundert insofern fortwirkten, als man den entscheidenden Scheidungsgrund in den Aussagen Luthers zu Papst, Konzil und Kirche sieht, zu denen er auch durch seine frühen Gegner gedrängt wurde. Dies korrespondiert mit dem ökumenischen Dialog der Gegenwart: Missstände und Reformbedarf und damit berechtigte Anliegen Luthers werden heute von Katholiken umso leichter zugegeben, als sich die Sozial- und Finanzstruktur des kirchlichen Lebens ohnehin grundlegend geändert hat; Papstamt und Kirchenverfassung erweisen sich hingegen heute als Hauptprobleme der Ökumene, während die Rechtfertigungslehre eine Art Mittelposition einnimmt, da sie zwar vielfach bejaht und dann doch in der Gegenwart eher nur modifiziert vertreten wird.
MARTIN LUTHER – ANSTOSS ZU KATHOLISCHER SELBSTKRITIK
Man kann konstatieren, dass die allmähliche Revision des katholischen Lutherbilds mit einer wirkungsgeschichtlichen Krise des Ultramontanismus als Erben der forcierten konfessionellen Abgrenzung einherging. Die konfessionellen Denktraditionen sich bewusst zu machen, um den fremden, vorkonfessionellen Luther als Gesprächspartner ernst nehmen zu können, ist so ein wichtiges Anliegen des gemeinsamen Wortes zum Reformationsjahr. Wird Luthers Theologie aus ihrer Genese verstanden, so verteilen sich Tradition und Innovation, die eben beide bei ihm und bei seinen „alt“gläubigen Gegnern zu finden sind. Hierüber besteht ein weitgehender Konsens auch in der evangelischen Lutherforschung. Welche Elemente der Theologie und Frömmigkeit Luthers aus welchen Quellen aber übernommen wurden, wie sich seine eigene theologische Entwicklung vollzog, wie Theologie und Ablassstreit zusammenhängen und schließlich, wodurch der ekklesiologische Bruch bedingt ist, darüber gibt es nach wie vor eine lebhafte Diskussion.
Sechs Aspekte, die wichtig erscheinen, um eine katholische Selbstkritik der eigenen konfessionellen Festlegungen zu befördern und Luther als „Vater des Glaubens“ für die Gegenwart fruchtbar machen zu können, seien deshalb skizziert:
1. Luthers Theologie entwickelte sich in der Auseinandersetzung mit der Hl. Schrift, vor allem mit den Psalmen und Paulus. Die Schrift war für den mittelalterlichen Universitätstheologen die selbstverständliche Textgrundlage. Sobald wir von Luther längere theologische Texte haben, bezieht er sich theologisch in signifikanter Weise auch auf Augustinus. Eine „nominalistische“ Phase wirklich nachzuweisen, dürfte schwierig sein; vielmehr beruft er sich für das in der Frühtheologie zentrale Gegensatzdenken zwischen dem Frommen, der auf die Gnade Gottes vertraut und dem Stolzen, der die Selbstgerechtigkeit sucht, auf Augustinus. Heiko A. Oberman und andere haben deshalb die Frage gestellt, ob Luther einer spätmittelalterlichen „Augustinus-Schule“ seines Ordens zuzuordnen sei; auf einer formellen Ebene lässt sich die Existenz einer solchen „Schule“ jedoch kaum nachweisen. Dafür lässt sich etwas anderes zeigen: In Luthers Orden wuchs die spirituelle Bedeutung des Kirchenvaters seit dem 14. Jahrhundert massiv an: Man verstand sich als sein verlängerter Leib und begründete so die Exzellenz der eigenen Lebensform gegen konkurrierende Orden (Saak). Die Spiritualität von Augustinus als monastischem Vorbild war aber, nichts durch die eigenen Werke und alles von der Gnade Gottes zu erhoffen. Diese augustinische Frömmigkeitstheologie prägte schon Luthers erste Vorlesungen.
2. In diesen ersten Vorlesungen war auch eine ekklesiologische Position grundgelegt; die Lehre von der Kirche ist für Luther so keineswegs sekundär; Christus als Haupt, der im Glauben seine Gnade dem Sünder verleiht, ist die zentrale Denkfigur, die Luther in stetem Kontakt mit dem Psalmenkommentar des Augustinus entwickelte. Die Kirche ist ein „Spital“, da Kranke, Sünder, in einem „fröhlichen Wechsel und Tausch“ (auch dieses Bild ist bereits augustinisch) die Gnade Christi verliehen bekommen; dagegen suchen Aristoteliker, Juristen und Kanonisten nur immer die eigene Gerechtigkeit und die eigenen Werke.
3. Zentrale Theologoumena des reformatorischen Luthers sind in seiner Frühtheologie bereits angelegt. In seinen Werken kann kein Bruch mit der eigenen theologischen Vergangenheit nachgewiesen werden, wohl aber Weiterentwicklungen. Einen Bruch, ein Turmerlebnis, wie ihn verschiedene Lebensrückblicke nahelegen, kann man nicht ausschließen. Dieser müsste dann wohl sehr früh angesetzt werden, noch vor dem Psalmenkommentar. Wahrscheinlicher ist aber der Vorschlag (Leppin), dass der Gegensatz zwischen Werkgerechtigkeit und Gnade nach den Bekehrungsbeispielen der maßgebenden Lehrer der Gnade, Paulus und Augustinus, bei Luther hier einfach biographisch stilisierend anschaulich gemacht wird.
4. Häufig wird die Neuartigkeit lutherischer ekklesiologischer Positionen betont, etwa dass der päpstliche Primat sich erst allmählich ausgebildet hat, oder dass einzelne Päpste oder Konzilien irren können. Es lässt sich aber zeigen, dass Luthers zentrale ekklesiologische Annahmen sich aus Augustinus speisen und dass auch die zeitgenössische Kanonistik mit irrenden Päpsten und Scheinkonzilien rechnete (Bäumer). Gerade Luthers Gegner und Richter Kardinal Cajetan führte Neuerungen ein, als er die Möglichkeit eines irrenden Papstes einschränkte und die Möglichkeiten eines legitimen Widerstands restringierte (Horst). Da viele seiner Gegner dominikanische Papalisten waren, die zugleich die Gnade mit aristotelisch-thomistischer Begrifflichkeit deuteten, interpretierte Luther den Streit um seine Theologie als Schulstreit, in dem die thomistische Schule sich mit der Lehre der Kirche zu identifizieren suchte.
5. Immer wieder wurde auf die wichtige Rolle von Staupitz für die Ausbildung von Luthers Theologie aufmerksam gemacht. Beide glaubten sich im Verständnis des Evangeliums als dem zentralen Inhalt der christlichen Botschaft einig. Da aber Staupitz katholisch blieb, kann hierin ein Indiz gesehen werden, dass Exkommunikation und Kirchenspaltung kontingente Ereignisse waren und eine frühlutherische Frömmigkeitstheologie unter anderen Bedingungen auch in der katholischen Kirche hätte bleiben können.
6. Luther vertrat in dem Sinne keine Mystik, als die Gerechtigkeit Christi eine fremde Gerechtigkeit bleibt. Dennoch verkürzt die spätere Imputationslehre den seelischen Erfahrungsbezug von Luthers Rechtfertigungslehre: Immer wieder brachen in der katholischen Kirchengeschichte Konflikte um die augustinische Gnadenlehre auf, vor und nach Luther: Während sich eine Position durchgesetzt hat, die die Gnade als unerfahrbare, neue Qualität an der Seele definierte, glaubte der Augustinismus, die sündhafte Selbstbezogenheit des Menschen und die das Herz umgestaltende Macht der christlichen Gnadenbotschaft (die freilich den alten Menschen nie ganz zum Schweigen bringt, weshalb er stets auf die Barmherzigkeit Gottes verweisen bleibt), anders deuten zu müssen. Wenn Luther als Lehrer der Gnade Vater im Glauben für Katholiken sein kann, dann darin, dass das Drama um Sünde und Gnade einen Erfahrungsbezug hat; wenn Sünde und Gnade nicht erfahrbar sind, scheinen sie dem säkularen Denken nicht relevant zu sein, eine Erlösungsreligion scheint dann überflüssig zu sein.
LITERATUR
Bäumer, Remigius, Nachwirkungen des konziliaren Gedankens in der Theologie und Kanonistik des frühen 16. Jahrhunderts, Münster 1971.
Beyna, Werner, Das moderne katholische Lutherbild, Essen 1969.
Erinnerung heilen – Christus bezeugen. Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, hg. von der Evangelischen Kirche Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover-Bonn 2016.
Hamel, Adolf, Der junge Luther und Augustin (2 Bd.), Gütersloh 1934-1935.
Hamm, Berndt, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierungen, Tübingen 2010.
Horst, Ulrich, Juan de Torquemada und Thomas de Vio Cajetan. Zwei Protagonisten der päpstlichen Gewaltenfülle, Berlin 2012.
Koch, Kurt, Gelähmte Ökumene. Was jetzt noch zu tun ist, Freiburg