Der Mann, der Troja erfand. Leoni Hellmayr
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»In diesem Dorfe verbrachte ich die acht folgenden Jahre meines Lebens,
und die in meiner Natur begründete Neigung für alles Geheimnisvolle
und Wunderbare wurde durch die Wunder, welche jener Ort enthielt,
zu einer wahren Leidenschaft entflammt.«
(Schliemann, Aus dem Vorwort von Ilios)
Der Weg zu jenem wundersamen, kleinen Dorf namens Ankershagen führt vorbei an sanft geschwungenen Hügeln, Seen und Wiesen, auf denen Kraniche und Störche rasten, vorbei an endlosen Rapsfeldern, die je nach Jahreszeit die einfache Landschaft in sattes Gelb tauchen. Das Erste, worauf der Blick des Besuchers nach dem Ortseingang fällt, ist eine breite Feldsteinkirche, rund achthundert Jahre alt. In einer etwas größeren Siedlung oder umgeben von einer anderen Landschaft würde sie möglicherweise wenig auffallen. Doch dieses Dorf und die weite, stille Umgebung verleihen ihr einen sonderbaren, markanten Charakter. Als würde sie bereits einen Hinweis darauf geben, dass in Ankershagen die Vergangenheit die Gegenwart überwiegt.
Heinrich Schliemann war kaum ein Jahr alt, als sein Vater Ernst Schliemann die Pfarrstelle von Ankershagen übernahm. Der Pastor und seine Frau Luise zogen mit ihren Kindern von Neubukow in das Pfarrhaus direkt gegenüber der Feldsteinkirche.
Wenn Heinrich aus dem Fenster seines Kinderzimmers blickte, konnte er in den Pfarrgarten sehen, bis hinüber zu einem kleinen Teich, der unmittelbar hinter dem Grundstück lag. Schon bald kannte er die Legende vom »Silberschälchen«. Und so stellte er sich spät nachts, wenn er nicht schlafen konnte, gerne vor, wie draußen eine Jungfrau mit einer Silberschale in den Händen aus dem Wasser steigt. Mit seiner Freundin, einem gleichaltrigen Mädchen namens Minna Meincke, die im Nachbardorf lebte, unternahm er nach der Schule ausgiebige Erkundungen der Umgebung. Immer waren die beiden Kinder auf der Suche nach Orten, zu denen vor allem die älteren Dorfbewohner viele unheimliche Geschichten zu erzählen wussten. Dazu mussten sie nicht unbedingt weit laufen – bereits die Gräber auf dem Friedhof um die Feldsteinkirche und die Toten, die dort lagen, sorgten für Nervenkitzel. Besonders gruselten sich Heinrich und Minna vor dem begrabenen Raubritter, dessen Bein angeblich früher jede Nacht aus dem Grab gewachsen war. Der Totengräber, der in den beiden Kindern zwei aufmerksame und stets wiederkehrende Zuhörer gefunden hatte, beschwor, dass er in einer Nacht, als er selbst noch klein gewesen war, das Bein abgeschnitten und damit Birnen von einem Baum geschlagen hätte. Heinrich bat daraufhin seinen Vater immer wieder darum, das Grab öffnen zu lassen, um endlich die Ursache dafür zu finden, weshalb das Bein mittlerweile nicht mehr an die Oberfläche wachsen wollte.
Manchmal durchstreiften die Kinder die Ruinen der nahe gelegenen Burg, wo der Raubritter mit dem unsterblichen Bein einst gelebt haben soll. Sie kletterten auf den zwei Meter dicken Mauern oder suchten nach unterirdischen Geheimgängen. An anderen Tagen gingen sie zu einer prähistorischen Stätte in der Nähe des Dorfes, einem Hünengrab. Der Legende zufolge war darin ein Kind in einer Wiege aus Gold bestattet worden. Heinrich verstand nicht, warum sein Vater in finanziellen Notzeiten nicht einfach die Wiege aus dem Grab schaufelte, um seine Geldsorgen ein für alle Mal zu lösen.
Heinrich behielt diese Abenteuer bis ins hohe Alter in schöner, fast romantischer Erinnerung, und in Minna hatte er eine Freundin gefunden, die die Begeisterung für seine absonderlichen Freizeitaktivitäten teilte. Als sie in einem Winter gemeinsame Tanzstunden nahmen, machten die beiden Kinder im Anschluss oftmals noch einen Spaziergang über den Friedhof oder lasen in den Kirchenbüchern; am liebsten durchforsteten sie alte Geburts-, Ehe- und Todeslisten. Heinrich war nach solchen Nachmittagen ganz beseelt von Abenteuer und Nervenkitzel. Spätestens aber, wenn er für das Abendbrot mit flinken Schritten zu seiner Familie zurückkehrte, kräftig an der Türklinke des Pfarrhauses zog, in den dunklen Eingang trat und die Holzdielen unter seinen Schuhen zu knarzen begannen, schienen die wunderbaren Erlebnisse des Tages in weite Ferne gerückt zu sein. Wenn die schwere Holztür krachend hinter ihm ins Schloss fiel, holte Heinrich die Realität endgültig ein.
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Es erfordert viel psychologisches Feingefühl, ein gesundes Maß an Empathie und ebenso viel professionelle Distanz für den Versuch, die Erlebnisse und Folgen der Kindheit einer fremden Person nachzuzeichnen. Die Kindheit ist, gerade weil der Mensch zu diesem Zeitpunkt noch kein selbstständiger Teil der Gesellschaft ist, eine Phase, die zu einem wesentlichen Teil hinter verschlossenen Türen stattfindet. Die Zeugen sind in der Mehrheit Menschen, die dem Kind sehr nahestehen, somit aber auch befangen sind; andere Quellen stehen kaum zur Verfügung. Es wird nicht einfacher, wenn es um die Kindheit eines Mannes geht, der in einem anderen Zeitalter lebte. Wir müssen allein mit seinen persönlichen Erzählungen arbeiten und hinnehmen, dass sich – wer kennt es nicht – die Erinnerungsfetzen an die früheste Kindheit über die Jahre hinweg verzerren können. Wenn der Betroffene an ihre Wahrheit glaubt, ist es vielleicht hinfällig, wie viel davon tatsächlich genauso stattfand.
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Das, woran Heinrich Schliemann sich erinnert, verfolgte ihn sein Leben lang. In einer italienischen Sprachübung, die er dreißig Jahre später zu Papier bringen wird, zeichnet er die Situation zwischen seinen Eltern so eindrücklich nach, als wäre sie erst gestern geschehen: Sein Vater – Heinrich hält ihn für verabscheuenswürdig – ging regelmäßig fremd und misshandelte seine Mutter. Er schwängerte sie und ließ nicht mehr von ihr ab.
Die Konflikte zwischen Ernst und Luise Schliemann könnten sich in den ersten Jahren noch unbemerkt von den Dorfbewohnern in den eigenen vier Wänden zugetragen haben. Die Liebschaften des Pastors sprachen sich aber sicherlich bald herum, und spätestens seine Beziehung zum eigenen Dienstmädchen namens Sophie Schwarz wurde zu einem offenen Geheimnis. Als Luise Schliemann die Demütigungen nicht mehr aushielt und die Magd aus dem Haus warf, waren die Konflikte damit nicht beendet. Im Gegenteil: Heinrichs Vater wurde gegenüber seiner Frau noch aggressiver, die Hausangestellten erzählten im Dorf, dass er sie schlagen würde. Seine Geliebte brachte er in einem Zimmer im benachbarten Waren unter und besuchte sie dort, sooft er konnte. Seine Pflichten als Pastor vernachlässigte er ebenso wie seine Familie. Das Martyrium, das vor allem Heinrichs Mutter durchlebte, muss unvorstellbar gewesen sein. In einem ihrer letzten Briefe an Heinrichs ältere Schwester Elise, die wohl zur selben Zeit eine Ausbildung zur Wirtschafterin in Parchim machte, schien sich die Mutter innerlich bereits auf den nahenden Tod vorzubereiten: »Aber die Tage, die dann kommen, kannst Du jeden Augenblick denken, dass ich im Kampfe zwischen Leben oder Todt bin. Solltest Du von letzterem benachrichtigt werden, so gräme Dich nicht viel, sondern freue Dich vielmehr, dass ich ausgelitten habe auf dieser für mich so undankbaren Welt!«
Zwei Monate, nachdem sie ihr neuntes Kind, Heinrichs Bruder Paul, zur Welt gebracht hatte, starb Luise Schliemann mit sechsunddreißig Jahren an den Folgen eines Nervenfiebers – eine Krankheit, die durch psychischen Stress oder seelische Erschöpfungszustände ausgelöst werden kann. Wer diese verursacht haben könnte, wusste mittlerweile das gesamte Umfeld. Heinrich war damals neun Jahre alt.
Bereits einen Tag nach dem Tod der Frau ließ Ernst Schliemann einen Nachruf veröffentlichen. Der Pastor hatte innerhalb weniger Stunden einen ungewöhnlich langen, detaillierten Text verfasst, in dem es ihm mit schwülstigen Worten