Der Mann, der Troja erfand. Leoni Hellmayr

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Der Mann, der Troja erfand - Leoni Hellmayr

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es in der Todesanzeige um das Schicksal eines bemitleidenswerten Witwers und alleinerziehenden Vaters von sieben Kindern. Ernst Schliemann übernahm sowohl die Trauerrede in der Kirche als auch die Rede am offenen Grab. Seine Frau ließ er an einer Stelle auf dem Friedhof bestatten, die gut sichtbar vom Pfarrhaus lag. Er ließ dem Schein seiner unendlichen Trauer ungefähr ein halbes Jahr Zeit. Dann holte er Sophie Schwarz zu sich ins Haus zurück. Nun ging das Martyrium von Neuem los – diesmal für Heinrich und seine Geschwister.

      Eine Woche nach dem Wiedereinzug der Dienstmagd, es war ein herbstlicher Sonntag, wurde das morgendliche Vogelgezwitscher um Ankershagen von einem Moment auf den anderen jäh unterbrochen: Ohrenbetäubendes Klirren und Scheppern hallte von den Häuserwänden über die Dorfstraße hinweg. Mehr als zweihundert Menschen hatten sich vor dem Pfarrhaus versammelt und schlugen mit Stöcken auf Töpfe ein. Dazu brüllten sie Spottgedichte. Von dem plötzlichen Lärm verängstigt versteckten sich Heinrich und seine Geschwister im Haus; trotz verschlossener Fenster hörten sie jedes der hasserfüllten Schimpfworte mit scharfer Deutlichkeit. Irgendwann hielt es Heinrich nicht mehr aus und wollte sehen, was sich auf dem Vorplatz abspielte. Er schob einen der zugezogenen Vorhänge vorsichtig beiseite und sah durch einen schmalen Spalt nach draußen: Nur wenige Meter vor ihm stand die aufgebrachte Gruppe und johlte in seine Richtung. Die meisten der zornerfüllten Gesichter kannte Heinrich gut, fast jeden von ihnen hatte er zumindest schon einmal gesehen. Das waren seine Nachbarn, die Bewohner von Ankershagen und den ringsum liegenden Dörfern. Als er bemerkte, wie sich ein Mann in der vordersten Reihe nach einem Stein auf dem Boden bückte, sprang er erschrocken vom Fenster weg und duckte sich. Eine Sekunde später klirrte es nebenan. Der Mann hatte offenbar mit dem Stein auf das Küchenfenster gezielt und es erfolgreich getroffen. Irgendwann beendete die Gruppe ihre Kesselmusik und ging wieder auseinander. Doch nicht für lange.

      Ernst Schliemann, Heinrichs Vater

      Den Skandal, den Ernst Schliemann mit seinem Verhalten verursacht hatte, wollte die Gemeinde Ankershagen nicht länger hinnehmen. Ihre Proteste wiederholten sie an den drei folgenden Sonntagen. Und mehr noch: Die Bewohner vermieden von nun an den Gottesdienst von Ernst Schliemann, und die Kirchengemeinde schickte eine Abordnung nach Waren, um sich über das Fehlverhalten ihres Pastors zu beschweren. Die Dorfbewohner wollten in erster Linie den Pastor treffen, aber mindestens so schwer trafen sie seine Kinder. Heinrichs Freunde tauchten nicht mehr bei ihm auf – ihre Eltern verbaten ihnen den Kontakt zu ihm. Auch Minna durfte nicht mehr mit Heinrich spielen; fortan musste er seine Streifzüge zu den geheimnisvollen Orten allein unternehmen. Solche Ausflüge machte er aber ohnehin kaum noch. Zu sehr spürte er die Blicke und das demonstrative Schweigen, wenn er im Dorf unterwegs war.

      Als Großherzog Friedrich Franz I. persönlich eine Ermittlung gegen Ernst Schliemann einleitete, um den Vorwürfen zu dessen angeblich unmoralischem Verhalten und den übrigen Verfehlungen auf den Grund zu gehen, sah Heinrichs Vater den Zeitpunkt gekommen, seine Kinder von Ankershagen wegzuschicken. Nicht einmal ein Jahr nach dem Tod der Mutter brach die Familie auseinander und zerstreute sich in unterschiedliche Richtungen. Heinrichs Geschwister wurden bei verschiedenen Verwandten untergebracht. Er selbst zog bei der Familie seines Onkels in Kalkhorst ein und wurde in den folgenden eineinhalb Jahren von einem Privatlehrer auf den höheren Bildungsweg vorbereitet.

      Im Herbst 1833 war es dann soweit: Der elfjährige Heinrich kam auf das Gymnasium Carolinum in Neustrelitz. Doch die Folgen des Skandals in Ankershagen wirkten immer noch nach. Heinrichs Vater war mittlerweile suspendiert worden und konnte das Schulgeld bald nicht mehr bezahlen. Heinrich musste nach drei Monaten das Gymnasium verlassen und auf die kostengünstigere Realschule wechseln. Die Enttäuschung über diesen aufgezwungenen Rückschritt bleibt ein Thema in Heinrichs Leben. Einen Versuch, dieses ungewollte Ereignis zu kompensieren, es metaphorisch in den Griff zu kriegen, könnte man aus seiner Selbstbiografie herauslesen, die er Jahrzehnte später niederschrieb. Dort formuliert Heinrich das Verlassen des Gymnasiums als eine Entscheidung, die er selbstständig getroffen hätte, um die wenigen Mittel des Vaters nicht überzustrapazieren.

      Mit vierzehn Jahren begann Heinrich direkt nach dem Abschluss der Realschule eine Kaufmannslehre in einem Krämerladen in Fürstenberg. Die folgenden fünf Jahre arbeitete er von morgens um fünf Uhr bis nachts um elf Uhr. Er verkaufte Heringe, Butter, Kaffee, Talglichter und vieles mehr, mahlte zwischendurch Kartoffeln für die Brennerei oder fegte den Laden. Zur Weiterbildung blieb ihm keine Zeit, im Gegenteil: Das Wenige, was er zuvor gelernt hatte, vergaß er während der Lehrjahre ganz. Außerdem wohnte Heinrich zum ersten Mal weit entfernt von Familie und Verwandten. Zwar fand er in seinem Lehrherrn Hans Theodor Hückstädt einen aufgeklärten und verständnisvollen Mann, mit dem er noch viele Jahrzehnte brieflichen Kontakt pflegte. Dennoch behielt er seine Zeit in Fürstenberg in schlechter Erinnerung und stellte sie stets als einen der Tiefpunkte seines Lebens dar.

      Nach fünf zähen Jahren voller anstrengender und eintöniger Arbeit folgte ein Jahr, das von wichtigen Entscheidungen und Begegnungen geradezu überhäuft war und letztendlich in dem Schiffsunglück vor Holland gipfeln sollte. Heinrichs Leben schien Fahrt aufzunehmen. Nachdem sein Arbeitsverhältnis in Fürstenberg beendet war, wollte er zunächst nach New York auswandern, landete dann aber in Rostock, von wo es ihn bald nach Hamburg zog. Nach vielen Jahren ohne Familie und Verwandtschaft traf er innerhalb weniger Monate wieder auf seinen Vater und dessen neue Ehefrau, sah seine beiden jüngsten Geschwister Louise und Paul und lernte zugleich seine neuen Halbgeschwister kennen, Karl und Ernst. Er ging nach Neubukow zum Grab seines älteren Bruders, der zwei Monate nach Heinrichs Geburt gestorben war. In Wismar traf er einen Teil seiner Verwandtschaft. Von dort gelangte er schließlich nach Hamburg.

      Nach der Zeitreise durch die mecklenburgische Provinz lernte Heinrich zum ersten Mal in seinem Leben eine Stadt kennen, deren Anblick allein ihn so sprachlos machte, dass er in seiner Unterkunft eine Stunde lang nackt am Fenster stand, ohne es zu bemerken. Auf dem Weg durch die Stadt sog Heinrich das Treiben mit all seinen Sinnen auf: diese vielen Menschen, egal, wohin er blickte; wie sie liefen und rannten, wie sie Heinrich wegdrängten oder ihn vor sich herschoben. Das Dauerrauschen aus dem Geschrei der Händler, die ihre Ware feilboten, aus dem Dröhnen der vorbeifahrenden Pferdekutschen, die den zähen braunen Matsch auf den Straßen hochspritzen ließen, und aus dem mechanischen Klang der Glocken, die von den Kirchturmuhren hoch über den Gebäuden bis hinunter in die Straßenschluchten drangen.

      In Hamburg kam es zu einer weiteren prägenden Begegnung. Heinrich suchte Sophie Schwarz auf, deren Affäre mit seinem Vater den Skandal in Ankershagen vor nunmehr zehn Jahren ausgelöst hatte. Sie arbeitete mittlerweile als Zimmermädchen in einem Hotel. Zwar war sie anders gekleidet, aber an ihrem plumpen Gesicht erkannte Heinrich sie trotzdem sofort. Obwohl er sie eigentlich verabscheute, berichtete Heinrich seinen Schwestern später in einem Brief von dem, was Sophie aus ihrer eigenen Perspektive über die schlimmen Ereignisse von damals zu sagen hatte. Ganz besonders ausführlich schilderte er dabei die Vorwürfe, die sie seinem Vater machte, die verlogenen Liebesversprechen eines geachteten Mannes, der das Wort des Höchsten verkündet. Er hatte sie in ihrer armseligen Lage als Dienstmagd ohne große Zukunftsaussichten geblendet. Heinrich brauchte nicht weniger als zehn Briefblätter, um die Anklage Sophies niederzuschreiben. Keine einzige ihrer Aussagen über Ernst Schliemann schien Heinrich seinen Schwestern vorenthalten zu wollen. Seine anfängliche Abscheu gegenüber Sophie schien einem anderen Gefühl gewichen zu sein – vielleicht dem Gefühl eines Leidensgenossen.

      Arbeitslos, schwach auf der Lunge und mit Schmerzen in der Brust wurde die Situation in der großen fremden Stadt für Heinrich langsam brenzlig. Um seinen Körper zu kräftigen, ging er regelmäßig in eisig kaltem Wasser baden. Um seine finanziellen Engpässe überbrücken zu können, schrieb er einen Brief an seinen Onkel in Vipperow und bat ihn darum, ihm zehn Reichstaler zu leihen. Dieser schickte ihm zusammen mit dem Geld einen Brief, dessen Inhalt Heinrich tief verletzte. Der Stolz des Neunzehnjährigen muss bereits zu diesem Zeitpunkt groß gewesen sein. Er schwor sich daraufhin, nie wieder um die Hilfe eines Verwandten zu bitten, egal, wie schwer seine Not auch

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