Kalte Sonne. Johannes Epple
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Keine Antwort. Nur das monotone Klicken des Aufzugs bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeifuhr.
»Hören Sie, ich komme gerade aus dem Kreißsaal. Wo ist Dr. Brandner, Nikolaus Brandner? Wo ist mein Kind? Meine Tochter. Ich suche meine Tochter.«
Der Aufzug ruckelte. Erdgeschoss, 1. Stock. Hanna zog sich am Seitengitter ihres Bettes hoch und blickte in das Gesicht des Mannes. Spitze Nase. Pferdeschwanz. Zerknittertes Hemd mit einer Zivildiener-Plakette an der Brust. »Sie wird gewaschen. Sie wird gewogen. Mehr ist nicht. Was soll das also? Sagen Sie mir gefälligst, wo meine Tochter ist.«
Der Zivildiener strich eine Strähne aus seinem Gesicht und blickte starr auf den Lageplan neben der Aufzugtür. »Alles Routine«, sagte er. »Alles unter Kontrolle. Beruhigen Sie sich.«
Hanna sank zurück. Bei jeder Bewegung wogte eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper. Ihr Unterleib brannte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Im dritten Stock öffnete sich die Schiebetür und der Zivildiener schob Hanna in ein Doppelzimmer. Er stellte sie auf den Platz neben dem Balkon, nahm die Krankenmappe und ging. Hanna stützte sich auf die Unterarme und sah sich um. Ihre Zimmerkollegin hatte die Decke über den Kopf gezogen. Hanna konnte nur ein braunes Haarknäuel und aufgeklebte Fingernägel erkennen. Am Nachtkästchen der Frau stand ein Orchideenstrauß. Auf der anderen Seite, eine Armeslänge von ihr entfernt, lag ein Neugeborenes in einem roten Gitterbett und strampelte vergnügt.
Während Hanna die walnussgroße Faust des Kindes betrachtete, die sich ungelenk öffnete und schloss, klopfte es an der Tür. Ein Arzt, höchstens ein paar Jahre älter als der Zivildiener, betrat schwungvoll das Zimmer, nahm sich einen Stuhl und schaltete seinen Pieper auf lautlos. »Es dauert noch ein paar Minuten«, sagte er. »Untersuchungen, Frau Mahler, Sie kennen das Prozedere.«
»Welche Untersuchungen?«, fragte Hanna. »Wo ist mein Kind?«
»Nun, Frau Dr. Mahler …« Der Arzt nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit der Innenseite seines Kittels.
»Sparen Sie sich das ›Frau Dr. Mahler‹. Ein Anruf bei der Patientenanwaltschaft und hier ist die Hölle los«, sagte Hanna. Die Aufregung machte sie ganz schwach. Sie hielt sich am Seitengitter fest und schluchzte. »Jeder Küchenpsychologe weiß, dass so ein Verhalten nicht in Ordnung ist. Nicht nach einer Geburt. Nicht gegenüber einer Mutter.«
Die Frau im Nachbarbett regte sich. Sie schlug die Decke zur Seite und holte, offenbar ohne Hanna und den Arzt wahrzunehmen, ihr Neugeborenes zu sich ins Bett.
»Frau Mahler, wir sind keine Idioten.«
»Dann sagen Sie mir, was los ist.«
Der Arzt war für die Jahreszeit braungebrannt und ließ sich offensichtlich die Augenbrauen zupfen. Er holte ein Notizbuch aus seinem Kittel und schlug es dort auf, wo das rote Leseband eingeklemmt war. »Ich habe mir Ihre Ultraschallbilder angesehen.« Kurze Pause. »Sie haben ein Mädchen erwartet, nicht wahr? Eine Tochter.«
Hanna nickte. Hinter ihrer Stirn pochten die Schmerzen. Sie fühlte sich wie nie zuvor in ihrem Leben. Nicht einmal vor der Defensio ihrer Habilitationsthesen war es ihr so schlecht gegangen. »Es ist kein Mädchen«, sagte sie.
Der Arzt klappte das Notizbuch zu.
»Es ist ein Junge«, sagte Hanna.
»Der Frauenarzt hat das Geschlechtsteil auf den Ultraschallbildern übersehen.«
»Ein Junge. Wo ist das Problem?«
»Dr. Brandner wird mit Ihnen sprechen. Er wird in wenigen Minuten da sein.«
»Ich will nicht warten. Ich will den Jungen sehen. Jetzt. Sofort.« Hanna zog sich am Seitengitter hoch. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, um nicht sofort wieder umzukippen. Als sie aufrecht saß, wurde ihr schwarz vor den Augen.
»Frau Mahler, bitte beruhigen Sie sich. Sie haben eine sechsstündige Geburt hinter sich. Dr. Brandner wird gleich kommen.« Verlegen lächelnd drückte der Arzt Hanna sanft zurück ins Bett.
Als Hanna wieder alleine war, trank sie einen Schluck Früchtetee. Mit der Tasse in der Hand blickte sie aus dem Fenster. Es war ein warmer Frühlingsnachmittag. Die Eichen und Tannen im Park der Semmelweis-Klinik glänzten im Sonnenlicht. Es war still, außergewöhnlich still für so ein großes Krankenhaus.
Eine falsche Bestimmung des Geschlechts kam gelegentlich vor. Hanna wusste das. Meistens handelte es sich um einen unachtsamen Frauenarzt oder um ein veraltetes Ultraschallgerät, das den Innenraum der Gebärmutter unscharf reproduzierte. Es konnte auch passieren, dass das Kind schlecht lag und so das Geschlecht nicht vollständig zu erkennen war.
Aber das alles traf nicht zu. Davon war Hanna überzeugt. Der Frauenarzt war ein Profi mit modernster Ausstattung, den sie seit Jahren konsultierte. Sie selbst hatte sich das Ultraschallbild angesehen. Zuerst in der Praxis und dann noch einmal daheim. Ihr Kind war ein Mädchen.
Im Nachbarbett regte sich das Neugeborene. Es streckte seine Arme und kreischte. Die Mutter legte das Kind an ihre Brust. Hanna beobachtete den Stillvorgang. So in etwa hatte sie sich die Stunden nach der Geburt vorgestellt. Zu zweit im Bett. Sie und das Mädchen ganz nah, so nah, dass sie sich gegenseitig einatmen konnten.
Als das Neugeborene gegenüber seinen Hunger gestillt hatte, schlief es augenblicklich ein. Die Frau legte das Kind in das rote Gitterbett zurück und tapste mit nackten Füßen ins Bad. Duschgeräusche. Der Ventilator brummte.
Seit dem Gespräch mit dem jungen Arzt waren zwanzig Minuten vergangen und Brandner war noch immer nicht da. Mistkerl. Hanna entschloss sich, bei nächster Gelegenheit tatsächlich den Patientenanwalt zu kontaktieren oder gleich den Vorstand der Semmelweis-Klinik. Aber zuvor brauchte sie Informationen über den Zustand ihres Kindes.
Hanna drückte den Notfallknopf am Nachtkästchen. Einmal. Zweimal. Sie wartete. Dreißig Sekunden. Eine Minute. Nichts. Sie setzte sich an den Bettrand und atmete tief ein. Sie schlüpfte in die Krankenhausschuhe und machte sich auf den Weg zur Tür. Langsam. Bedächtig. Mit zur Sicherheit ausgestreckten Armen. Sie schaffte es ohne Schwindelanfall bis zum Waschbecken neben der Tür. Dort machte sie eine Pause. Wehmütig blickte sie zu dem schlafenden Kind. Ein Junge. Wenigstens deutete der blaue Strampler daraufhin. Er hatte dichte, schwarze Haare und eine Boxernase. Seine Hände lagen ruhig auf der Bettdecke.
Hanna schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Sie war zu schwach, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Kehle war trocken. Die Beine zitterten. Mit letzter Kraft trat sie auf den Gang. Sie tastete sich an der Mauer entlang und klopfte an die Glastür des Schwesternzimmers. Sie hörte Stimmen. Eine Gänsehaut jagte über ihren Rücken. Ein Telefon läutete. Schritte. Die Tür ging auf. Das bleiche Gesicht einer Mittvierzigerin war das Letzte, das Hanna wahrnahm.
Weißes Licht. Ein Luftzug vom Fenster. Ein Vorhang, der sich aufbauscht.
Schmerzen. Im Kopf. Im Unterleib. Schmerzen. Am Handgelenk. Am Oberkörper.
»Frau Mahler, hören Sie mich? Ich bin Marija. Bitte geben Sie mir Ihren Arm. Keine Sorge, es tut nicht weh.«
Hanna öffnete die Augen. Eine Schwester mit einer Tätowierung am Handgelenk beugte sich über sie. »Ich gebe Ihnen Kochsalzlösung. Sie haben lange geschlafen.«