Entlehrt euch!. Rolf Arnold

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Entlehrt euch! - Rolf Arnold

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darüber wachen, welche neuen Einsichten den fachlichen und methodischen Standards eines Faches entsprächen und welche nicht – eine durchaus ambivalente »Sicherung«, da sie das Neue am Leisten des Alten misst und vielleicht genau dadurch Innovationen ausschließt.

      Insbesondere in den Naturwissenschaften haben sich dabei Formen einer sozialen Kontrolle entwickelt, mit denen die Scientific Community einer Disziplin darüber wacht, wer welche Ergebnisse ihrer Forschung in den anerkannten Fachzeitschriften veröffentlichen darf und wer nicht. Zugleich weisen diese Zeitschriften unterschiedliche »Impact-Faktoren« auf – mit der Folge, dass nur deren Chancen auf Berufung und Forschungsmittel steigen, die in Zeitschriften mit einem hohen Impact-Faktor veröffentlichen. Dass diese Praxis auch der Willkür, Manipulation und Macht Tür und Tor öffnet und die Verfasserinnen und Verfasser z. B. bisweilen zu »erzwungenen Zitationen« (aus der jeweiligen Zeitschrift selbst, um deren Impact-Faktor zu erhöhen) gedrängt werden, haben zahlreiche Studien der letzten Jahre aufgedeckt (vgl. Kaube 2008). Eine soziologische Kritik gelangt deshalb zu der eher vernichtenden Bewertung, dass

      »der Peer-Review kein wissenschaftliches Messverfahren für die Güte von Publikationen [ist], sondern eine soziale Einrichtung zur Kalibrierung der Lesezeiten einer Disziplin« (Hirschauer 2004, S. 62).

      Mittlerweile lässt sich die Kritik an der eigentlichen Qualität der Peer-Review-Praxis nicht mehr übersehen. Bereits 1982 wurden in zwölf psychologischen Fachzeitschriften Aufsätze, die schon eineinhalb Jahre zuvor erfolgreich publiziert worden waren, nochmals (bei denselben Zeitschriften) eingereicht, was bloß drei von 38 Referees überhaupt auffiel. Von diesen Aufsätzen wurden acht von neun wegen »schwerwiegender methodologischer Mängel« abgelehnt – wohlgemeint: Aufsätze, die einige Monate davor das Reviewverfahren erfolgreich passiert hatten (Peters/Ceci 1982). Solche Ergebnisse stärken die Zweifel an der qualitätssichernden Wirkung dieser Art von Publikationskontrolle. Diese ist nicht bloß durch die erwähnten beschämenden Widersprüchlichkeiten – um nicht zu sagen: Willkürlichkeiten – bei erneuter Begutachtung diskreditiert, sondern auch durch ihre Unfähigkeit, Übertreibungen oder Irrtümer in berichteten Forschungsergebnissen sicher auszuschließen, wie John P. A. Ioannidis im Jahre 2005 bei mindestens einem Drittel der in Peer-reviewed Journals veröffentlichten medizinischen Arbeiten herausfand (Ioannidis 2005). Ist es vor dem Hintergrund solcher Widersprüchlichkeiten abwegig, der evidenzsichernden Wirkung von Peer-Review-Verfahren und sogenannten Impact-Faktoren gründlich zu misstrauen? Und auch die Frage nicht außer Acht zu lassen, wie es um die Kreativität und Innovativität von wissenschaftlichen Disziplinen bestellt sein kann, deren Nachwuchs sich bei der Publikation seiner Ergebnisse gültigkeitssichernden Verfahren unterziehen muss, deren Gültigkeit selbst in Zweifel steht, und die darüber hinaus dazu neigen, das Neue an den Maßstäben des etablierten Mainstreams zu messen?

      Man kann es deshalb nicht deutlich genug hervorheben: Auch die durch Peer-Reviews, Impact-Faktoren und Rankings geregelten Evidenzbelege sind das Ergebnis einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Auch in ihr teilt sich uns Wirklichkeit lediglich zu unseren Bedingungen und Verfahren bzw. denen der jeweiligen Zunft mit, d. h. in der Form, wie sie auf uns zu wirken vermag. Was nicht zur Veröffentlichung gelangt, ist nicht per se ungeeignet, es wird aber kaum wahrgenommen und entfaltet deshalb auch weniger Wirkung. Wo Studien hingegen zugänglich sind, eine breite Zustimmung auslösen, Überprüfungen standhalten und sinnvolleres Handeln begründen, kann – zumindest vorläufig – davon ausgegangen werden, dass das gezeichnete Bild mehr oder weniger zutrifft – nicht im Sinne des Abbilds einer externen Wirklichkeit, wohl aber als vorübergehende gemeinsame Basis eines funktionierenden bzw. sozial akzeptierten Handelns. Als wie fragil diese Basis sich erweisen kann, zeigen u. a. die Debatten um den 2006 vom ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore produzierten Film »Eine unbequeme Wahrheit«. Letztlich kann auch Al Gore nur scientometrisch bzw. bibliometrisch argumentieren, indem er z. B. nüchtern darauf verweist, dass die menschengemachte Erderwärmung über die Jahre von zunehmend weniger Studien in Zweifel gezogen wird (vgl. Beck 2010). Die unmittelbare Evidenz seiner eigenen Belege reicht nicht aus, er muss diese noch durch mittelbare Evidenzbelege unterfüttern. Die Klimaerwärmung mag zwar evident sein, ihre Evidenz wird aber erst zu einer Tatsache, wenn sie auch sozial geteilt wird – ein Unterschied, der oft gerne übersehen und gegen die konstruktivistischen Erkenntnistheorien in Stellung gebracht wird. So übersehen z. B. die nicht enden wollenden Polemiken gegen das systemisch-konstruktivistische Weltbild in der Pädagogik: Evidenz ist Wahrheitsähnlichkeit, d. h. die – augenblicklich – am besten begründete Form der Schlussfolgerung, aber eben nicht die Wahrheit selbst, wie ein Blick in die Geschichte der wissenschaftlichen Irrtümer zeigt (vgl. Zankl 2004). Zur – vorübergehenden – Wahrheit wird sie erst, wenn soziale Akzeptanz hinzutritt.

      Evident ist das, was uns und signifikanten Anderen begründet der Fall zu sein scheint. Dass auch andere einen Sachverhalt so beurteilen, wie wir dies tun, lässt uns sicherer werden – allerdings nicht immer zu Recht, wie wir aus den zahlreichen Paradigmenwechseln in der Geschichte der Wissenschaft wissen. Manche Wissenschaftler machen es sich deshalb zu leicht, wenn sie Evidenz mit Wahrheit verwechseln und alle diejenigen der Unvernunft schmähen, die sich in dieser Frage behutsamer und voller Zweifel bewegen. So melden sich Materialisten und sogenannte »neue Realisten« mit ähnlichen Argumentationen zu Wort. Dabei halten beide unisono an der Illusion der sicheren Erkennbarkeit der Welt fest – wie anders könnten sie behaupten, was sie behaupten? Und dass es sich um Behauptungen, genauer gesagt: um trotzige Behauptungen, handelt, wird bei einem der Wortführer des Neuen Realismus, dem Bonner Philosophen Markus Gabriel, deutlich, wenn er es anstelle eines Arguments einfach bei der Feststellung belässt: »Aber es stimmt einfach nicht, dass wir uns immer oder auch nur fast immer täuschen« (Gabriel 2013, S. 13).

      Auch in den pädagogischen Debatten tummeln sich Realisten oder – noch extremer – Materialisten. Für die materialistischen Bildungstheorien stand am Anfang die Gamm’sche Rehabilitierung des realistischen Denkens als ein »radikaler Rationalismus«, d. h. eine Erkenntnisform, »die unbeirrbar an der vollen Diesseitigkeit der Welt festhält« und auch dem Anspruch verpflichtet bleibt, »zum Emanzipationsprozess der Gattung anzuleiten« (Gamm 1983, S. 21 und 69). Diese Haltung setzt eine Unerschütterlichkeit im Wissen voraus, die nach den neueren Denk- und Wahrnehmungstheorien eigentlich nicht zu haben ist. Vielmehr stärken diese in uns den Eindruck, dass auch unser eigenes Nachdenken nur zu denken vermag, was in uns als Möglichkeit angebahnt ist – und es somit keinen Weg gibt, um tatsächlich zu gewährleisten, was materialistische Bildungstheorien beständig versprechen, nämlich »dass ein Nervensystem Informationen aufnimmt und daraus Repräsentationen (also: interne Abbilder) seiner jeweiligen Umwelt erstellt« (Pongratz 2010, S. 284), wobei so getan wird, als seien diese Abbilder irgendwie exakte Wiedergaben einer im Außen so und nicht anders gegebenen Wirklichkeit. Unnötig zu betonen, dass dieser naive Realismus selbst in den Naturwissenschaften wenig Freunde hat, wie bereits die erkenntnistheoretischen Arbeiten aus dem Umkreis der Physik zeigten. So befasste sich der theoretische Physiker David Bohm in seinem auf Deutsch unter dem Titel »Der Dialog« erschienenen Werk auch mit dem unauflösbaren Wechselverhältnis zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten und stellte fest:

      »Normalerweise erkennen wir nicht, dass unsere Annahmen die Natur unserer Beobachtungen beeinflussen. Aber die Annahmen beeinflussen die Art, wie wir die Dinge sehen, wie wir sie erfahren und infolgedessen das, was wir tun wollen. In gewisser Weise sehen wir durch unsere Annahmen. […] [D]er Beobachter ist das Beobachtete. Wenn wir die beiden nicht zusammensehen, den Beobachter und das Beobachtete bzw. die Annahmen und die Emotionen, erhalten wir ein völlig falsches Bild. Wenn ich sage, ich will sehen, was in meinem Geist vorgeht, aber meine Annahmen nicht mitbedenke, bekomme ich ein falsches Bild, weil die Annahmen es sind, die beobachten.« (Bohm 2011, S. 134 und 135 f.)

      Deshalb müsste die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung sich auch viel stärker von der Sache selbst weg und zum Beobachter und seinen Annahmen hin bewegen. Dann fällt einem zwar auf, dass die »Möglichkeit einer angemessenen Auffassung der Umwelt« (Pongratz 2010, S.

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