Klingen, um in sich zu wohnen 2. Udo Baer
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Ein Klient litt unter großen Ängsten, die ihn beunruhigten und in denen er sich über längere Zeiträume verfing. Er begann zu singen: „Ich brauche keine Angst zu haben.“ Später änderte er den Satz in: „Ich bin groß und kräftig.“ Diesen Satz sang er vor sich hin, so, wie Kinder im Wald pfeifen, um die Angst zu vertreiben. Er sang ihn nicht einmal, sondern mehrmals und er erzählte: „Wenn ich das mindestens zehn Minuten lang singe, dann helfe ich mir, dann geht meine Angst weg. Zumindest verzieht sie sich in den Hintergrund und ich kann mich wieder orientieren und ausatmen und schauen, was ich brauche und was mir gut tut.“Ein solches Vertrauen in die Wirkungskraft seines gesungenen Satzes erinnert an Mantras, also bestimmte tibetanische Liedzeilen, die wiederholt gesungen werden. Hier ist es nicht so sehr der Text (der nicht unwichtig ist, dem aber an dieser Stelle keine mystische Bedeutung zukommt), sondern die Wiederholung und der Trost, der im laut werdenden Wiederholen enthalten ist.
Die letzte wichtige und häufige Form sind Reinigungsgesänge. Sie sind in der Musiktherapie besonders dann notwendig, wenn Menschen sich z. B. durch Erfahrungen des Missbraucht-Werdens (nicht nur körperlich, sondern auch emotional oder geistig) und der sexuellen Gewalt, des Ausgeliefertseins und der Fremdbestimmung verunreinigt, beschmutzt oder vergiftet fühlen. „Singe für dich und vor dich hin und reinige und wasche dich mit deinem Gesang.“, oder: „Dusche dich mit deiner Stimme.“, sind Aufforderungen, die vielleicht zunächst etwas absurd oder verrückt klingen, aber die erstaunlichsten Klänge und Wirkungen der Selbsthilfe hervorrufen.Wenn die Not nicht so groß ist und eher die Lust am Sich-Reinigen im Vordergrund steht oder KlientInnen etwas Altes abstreifen, sich wie eine Schlange „häuten“ wollen, damit etwas Neues entstehen kann, dann birgt die folgende Variante des Reinigungsrituals und -gesangs gute Chancen:Man kann sich selbst oder die Körperperipherie abstreifen, abrubbeln, abkribbeln, abreiben oder andere TeilnehmerInnen einer Gruppe – so wenig oder so viel, wie man möchte – bitten, das zu tun. Entscheidend ist, dass die andere Person oder die anderen Personen währenddessen singen.
14
Wort und Klang
14.1 Der Klang der Sprache
Nehmen Sie, wenn Sie mögen, Ihr Lieblingsgedicht und lesen Sie es sich laut vor. Lauschen Sie dem Klang der Sprache. Ihnen wird vermutlich auffallen, dass diesem Text ein eigener Klang, vielleicht eine Melodie, ein Rhythmus innewohnt. Lyrik ist in unseren Ohren klingende Sprache. Lyrik spielt mit den Wortbedeutungen, mit grammatikalischen Sinnzusammenhängen, spielt aber auch mit den klanglichen Qualitäten der Wörter und Wortzusammenhänge – kurz: Lyrik komponiert Sprache.
Wer dies überprüfen möchte, kann für sich selbst oder mit TeilnehmerInnen einer Gruppe folgendes Experiment durchführen:
„Suchen Sie ein Gedicht oder eine Gedichtzeile aus, die Ihnen etwas Besonderes bedeutet. Vielleicht weist dieses Gedicht auf ein Gefühl hin, das für Sie gerade wichtig ist, oder auf eine Lebenserfahrung, die in Ihnen nachhallt.
Lesen Sie dieses Gedicht mehrmals laut vor und lauschen Sie dem Klang des Vorgelesenen …
Und begleiten Sie jetzt den Text mit einem Rhythmusinstrument …
Nun versuchen Sie, diesen Text zu singen, ihm eine Melodie zu geben …
Spielen Sie mit diesem Text musikalisch, versuchen Sie ihn musikalisch auszudrücken, ganz gleich, ob sie dabei die Worte begleiten oder mittlerweile den Text hinter sich lassen und nur das Klangbild, die klangliche Essenz des Gedichtes oder der Gedichtzeile vertonen.“
In der Therapie bilden weniger Gedichtzeilen oder andere lyrische Texte den Ausgangspunkt eines ähnlichen Experimentes, sondern eher ein eigener Text bzw. Bedeutungssätze einer Klientin oder eines Klienten. Unter Bedeutungssätzen verstehen wir, wie die Bezeichnung sagt, Sätze, die im Gespräch eines Klienten oder einer Klientin als bedeutungsvoll hervorstechen. Häufig sind das das Leben grundsätzlich bestimmende Sätze wie z. B.: „Immer komme ich zu kurz.“, „Ich habe ja nie eine Chance.“, oder „Immer ich. Ich bin immer schuld.“ Oder es handelt sich um Sätze der Selbstabwertung wie: „Immer mache ich alles falsch“, „Ich bin im Grunde ein Versager.“, oder „… eine Mogelpackung“ oder „… eine Zumutung“ oder „wäre besser gar nicht geboren“. Diese Sätze zu verklanglichen und damit hervorzuheben, herauszuheben aus ihrer selbstverständlichen und unüberprüften Existenz, ist oft ein Anfang, ihnen an Bedeutungskraft zu nehmen oder sie zumindest zu relativieren. Oft reicht es nicht, wenn KlientInnen bestimmte Aussagen für sich als falsch erkennen, es braucht das Gegenteil, die Gegenformulierung. Deshalb arbeiten wir häufig damit, dass wir die KlientInnen bitten, zu solchen Sätzen Gegen-Sätze zu bilden, individuelle Sätze, die auf diese negativen Bedeutungssätze antworten. Solche Gegenteilsätze können z. B. sein: „Ich habe das Recht geliebt zu werden.“, „Ich bin daran schuld, dass …, aber ich bin nicht daran schuld, dass …“ oder „Ich habe Mut.“ Einen solchen Gegenteilsatz zu formulieren, fällt vielen KlientInnen schwer. Noch schwerer fällt es ihnen, diesen Satz auch laut auszusprechen. Ist diese Hürde erst einmal genommen, hilft es häufig, diesen Satz auch durchzukauen, ihn zu singen, ihn zu rhythmisieren, ihn in verschiedenen Tonhöhen und Lautstärken auszusprechen etc. Dadurch wird der Satz angeeignet, erhält er eine eigene Färbung.
Der Klang der Sprache kann von großer Bedeutung für den therapeutischen Prozess sein, auch ohne dass Sätze oder Textbestandteile Ausgangspunkt sind. „Jede Stimme ist einzigartig in ihrer Zusammensetzung und Nutzung der musikalischen Bausteine:
Der Rhythmus, in dem eine Stimme spricht, das Pausieren oder Fließen der Stimme, ihre Abruptheit und ihre großen Bögen.
Die Dynamik, mit der eine Stimme spricht, die Zurückgenommenheit oder Vordergründigkeit der Stimme, ihr Poltern, Bellen, Lärmen oder ihr Wispern, ihre Verhaltenheit, ihre Zärtlichkeit.
Der Klang, die Fülle oder Enge, Dichte oder Dünnheit, mit der eine Stimme immer auch Nähe oder Distanziertheit ausdrückt, ihre Dumpfheit oder Helligkeit, ihre Belegtheit oder Klarheit.
Ihre Melodie, zwischen monotoner Rezitationsstimme oder in großen, dramatischen Melodiebögen sich entwickelnd, zwischen winzigen Ausschlägen nach oben und unten, in Höhen und Tiefen schwankend, zwischen Schlichtheit oder verzierender Überladenheit, dem ‚Pathos’ einer Stimme.“ (Decker-Voigt 1999, S.159)
Wenn wir KlientInnen zuhören, vernehmen wir nicht nur die Worte, sondern lauschen auch dem Klang ihrer Sprache und lassen ihn auf uns wirken. Die Unterschiede der Sprachklänge können frappierend sein. Auffallen kann z. B.:
Ein Klient erzählt monoton im immer gleich bleibenden Rhythmus, ganz gleich ob es sich um eher belanglose Ereignisse handelt oder aufregende Dinge – im Klangbild der Sprache wird keine Gewichtung vorgenommen.
Manche KlientInnen singen ihr gesprochenes Wort. Wenn man ihnen mit geschlossenen Augen lauscht, hört man Melodien unterschiedlichen Charakters, die differenzierte Reaktionen hervorrufen.
Ein Klient nutzte die Lautstärke seiner Stimme als Barometer seines inneren Erlebens. Je aufregender es wurde, je mehr seine Erregung in die Höhe stieg, je mehr sein Herz betroffen wurde, desto leiser wurde er.
Eine Klientin erzählte und erzählte, die Therapeutin vernahm vor allen Dingen die