Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom
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Einige unserer größten Werke der Literatur haben die positiven Wirkungen, die eine nahe Begegnung mit dem Tod auf einen Menschen hatte, dargestellt.
Tolstois Krieg und Frieden liefert uns eine ausgezeichnete Illustration davon, wie der Tod einen radikalen persönlichen Wandel initiieren kann.14 Pierre, der Protagonist, fühlt sich von dem bedeutungslosen, leeren Leben der russischen Aristokratie abgestumpft. Als verlorene Seele stolpert er durch die ersten neunhundert Seiten des Romans und sucht nach irgendeinem Sinn des Lebens. Es kommt zum Höhepunkt des Buches, als Pierre von Napoleons Truppen gefangen genommen und zum Tod durch Erschießen verurteilt wird. Er steht mit sechs anderen in einer Reihe, er beobachtet die Exekution der fünf Männer vor ihm und bereitet sich daraufvor zu sterben – erst im letzten Augenblick wird er unerwarteterweise begnadigt. Die Erfahrung verwandelt Pierre, der dann während der letzten dreihundert Seiten des Romans sein Leben begeistert und zweckvoll lebt. Er begibt sich voll in die Beziehung zu anderen, ist sich seiner natürlichen Umgebung voll bewusst, entdeckt eine Aufgabe im Leben, die Bedeutung für ihn hat, und widmet sich ihr.
Auch Dostojewskij wurde im Alter von neunundzwanzig Jahren vor der Exekution durch ein Erschießungskommando in letzter Minute begnadigt – ein Ereignis, das sein Leben und sein Werk nachhaltig beeinflusste.
Tolstois Geschichte »Der Tod des Iwan Iljitsch« enthält eine ähnliche Botschaft.15 In Iwan Iljitsch, einem engstirnigen Bürokraten, entwickelt sich eine tödliche Krankheit, wahrscheinlich Darmkrebs, und er erleidet ungewöhnliche Schmerzen. Seine Qual dauert unvermindert an, bis Iwan Iljitsch kurz vor seinem Tode auf eine bestürzende Wahrheit stößt: er stirbt schlimm, weil er schlimm gelebt hat. In den wenigen Tagen, die ihm verbleiben, erfährt Iwan Iljitsch eine dramatische Verwandlung, die mit keinem anderen Begriff beschrieben werden kann als persönliches Wachstum. Wäre Iwan Iljitsch ein Patient, würde jeder Psychotherapeut vor Freude über den Wandel in ihm strahlen: er bezieht sich viel einfühlsamer auf andere; seine chronische Bitterkeit, Arroganz und Selbstverherrlichung verschwinden. Kurz und gut, in den letzten wenigen Tagen seines Lebens erreicht er eine weit höhere Ebene der Integration, als er sie jemals zuvor erreicht hat.
Dieses Phänomen ereignet sich häufig in der Welt des Klinikers. Beispielsweise deuten Interviews mit sechs von zehn Selbstmordwilligen, die von der Golden Gate Bridge sprangen und überlebten, darauf hin, dass diese sechs als Ergebnis ihres Sprungs in den Tod ihre Ansichten über das Leben verändert hatten.16 Einer berichtete: »Mein Lebenswille hat sich eingestellt … es gibt einen wohlwollenden Gott im Himmel, der alle Dinge im Universum durchdringt.« Ein anderer: »Wir haben alle Anteil an der Göttlichkeit – jenem großen Gott Menschlichkeit.« Ein anderer: »Ich habe jetzt einen starken Lebenswillen … mein ganzes Leben ist wiedergeboren … ich bin aus den alten Pfaden ausgebrochen … ich kann jetzt die Existenz anderer Menschen empfinden.« Ein anderer: »Ich spüre, dass ich Gott jetzt liebe und möchte etwas für andere tun.« Ein weiterer:
Ich war erfüllt von einer neuen Hoffnung und einem neuen Zweck des Lebens. Es geht über das Verständnis der meisten Menschen hinaus. Ich schätze das Wunder des Lebens – wie wenn ich einen Vogel beim Fliegen beobachte – alles ist bedeutungsvoller, wenn du nahe daran bist, es zu verlieren. Ich erlebte ein Gefühl der Einheit mit allen Dingen und des Eins-Seins mit allen Menschen. Nach meiner psychischen Wiedergeburt habe ich auch Mitgefühl für die Schmerzen von anderen. Alles war klar und hell.
Es gibt unzählige klinische Beispiele. Abraham Schmitt beschreibt im Detail eine chronisch depressive Patientin, die einen ernsthaften Selbstmordversuch unternahm und durch reinen Zufall überlebte, und er hebt die »vollständige Diskontinuität zwischen den beiden Abschnitten ihres Lebens« hervor – vor und nach ihrem Selbstmordversuch. Schmitt spricht von seinem professionellen Kontakt mit ihr nicht im Sinne einer Therapie, sondern im Sinne einer Dokumentation ihrer drastischen Lebensveränderung. Um sie zu beschreiben, verwenden ihre Freunde das Wort »pulsierend«, was so viel wie »vor Leben und Enthusiasmus sprühend« heißt. Der Therapeut stellt fest, dass sie nach ihrem Selbstmordversuch »in Kontakt mit sich selbst, ihrem Leben und ihrem Ehemann war. Ihr Leben wird nun voll gelebt und erfüllt das Leben vieler anderer. … Innerhalb eines Jahres nach dem Selbstmordversuch und dem Wandel wurde sie schwanger mit dem ersten von mehreren Kindern, die in rascher Folge geboren wurden (sie war lange unfruchtbar gewesen).«17
Russel Noyes studierte zweihundert Personen, die todesnahe Erfahrungen hatten (Autounfälle, Ertrinken, Abstürze in den Bergen u.a.), und er berichtete, dass eine ansehnliche Zahl (23 Prozent) sogar viele Jahre später beschrieb, dass sie über so etwas verfügten wie ein
starkes Empfinden für die Kürze des Lebens und seinen Wert … einen größeren Schwung im Leben, eine erhöhte Wahrnehmung der und emotionale Reaktionsfähigkeit auf die unmittelbare Umgebung … eine Fähigkeit, im Augenblick zu leben und jeden Moment zu genießen, wenn er vorbeikommt … ein größeres Bewusstsein vom Leben – ein Bewusstsein vom Leben und den lebenden Dingen und den Drang, sich ihrer jetzt zu erfreuen, bevor es zu spät ist.18
Viele von ihnen beschrieben eine »Neubewertung von Prioritäten«, und dass sie mehr Mitgefühl und mehr menschliche Orientierung hatten als zuvor.
Abdul Hussain und Seymour Tozman, Ärzte für die »Todeszellen« in einem Gefängnis, beschreiben drei Menschen in einem klinischen Fallbericht, die zum Tode verurteilt waren und in letzter Minute begnadigt wurden. Alle drei zeigten dem Autor zufolge einen tiefen Wandel ihres Persönlichkeitsstils und einen »bemerkenswerten Wandel ihrer Einstellung«, der während der folgenden Monate anhielt.19
Krebs: Konfrontation mit dem Tod. Das chinesische Piktogramm für »Krise« ist eine Kombination von zwei Symbolen: »Gefahr« und »Gelegenheit«. Während vieler Jahre war ich bei meiner Arbeit mit unheilbar kranken Krebspatienten erstaunt darüber, wie viele von ihnen ihre Krise und ihre Gefahr als eine Gelegenheit für Wandel nutzten. Sie berichten von erstaunlichen Verschiebungen, inneren Verwandlungen, die nicht anders als als »Persönlichkeitswachstum« charakterisiert werden können:
• Ein neues Arrangement der Prioritäten im Leben: eine Trivialisierung des Trivialen.
• Ein Gefühl der Befreiung: die Fähigkeit, darüber zu entscheiden, Dinge nicht zu tun, wenn sie nicht wollten.
• Ein gesteigertes Gefühl für das Leben in der unmittelbaren Gegenwart, statt das Leben bis zur Pensionierung oder einem anderen Zeitpunkt in der Zukunft zu verschieben.
• Eine lebhafte Wertschätzung der elementaren Tatsachen des Lebens: Wandel der Jahreszeiten, Wind, fallende Blätter, letztes Weihnachtsfest und so weiter.
• Tiefergehende Kommunikation mit geliebten Menschen als vor der Krise.
• Weniger zwischenmenschliche Ängste, weniger Besorgnis, zurückgewiesen zu werden, größere Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen als vor der Krise.
Senator Richard Neuberger beschrieb diese Verwandlungen kurz vor seinem Tod durch Krebs:
Ein Wandel ergriff mich, von dem ich glaube, dass er nicht wieder rückgängig zu machen ist. Fragen des Prestiges, des politischen Erfolges, des finanziellen Status’ wurden auf einmal unbedeutend. In jenen ersten Stunden, als mir bewusst wurde, dass ich Krebs hatte, dachte ich nicht an meinen Sitz im Senat, an mein Bankkonto oder an das Schicksal der freien Welt … meine Frau und ich hatten keinen Streit, seit meine Krankheit diagnostiziert wurde. Ich pflegte sie auszuschimpfen, weil sie die Zahnpasta von oben herausdrückte statt von unten her, weil sie nicht genügend für meinen sehr eigenwilligen Appetit gesorgt hatte, weil sie eine Gästeliste anfertigte, ohne mich zu befragen, weil sie zu viel für Kleider ausgab. Jetzt sind mir diese Dinge entweder