Lockvogel. Therese Kersten
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Therese Kersten:
Lockvogel
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 edition a, Wien
Cover: JaeHee Lee
Gestaltung: Lucas Reisigl
ISBN 978-3-99001-282-6
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
INHALT
Ignoranz, Beharrlichkeit – und mein erster Fall
Dick Pics – oder: Das Alter und das Schweinigeln
Oink. Oink. Willst du meine Sau werden?
Wenn Frauen Frauen schöne Augen machen
DOPPELT GEMOPPELT
Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.
Seltsam, dass dieser Satz Julia immer dann einholte, wenn er ihr so gar nicht gelegen kam. Nicht, weil er sie prinzipiell zu erschüttern verstünde. Nicht, weil er sie auf eigene Umtriebe zurückwürfe. Hier. Heute Abend.
Andererseits wieder doch. Gerade hier. Gerade heute Abend.
Wie auch immer. Jedenfalls schaffte dieser Satz eines: Er führte ihr vor Augen, wie endlos nah Süße und Bitterkeit beisammen lagen, diese vorherrschenden Geschmacksrichtungen auf der Zunge, die sich Leben nannte. War es nun die eigene oder die anderer Leute.
Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.
Längst hatte Julia vergessen, wo sie den Satz gelesen hatte, und auch, wem er zugeschrieben wurde (war es einer der großen deutschen Dichter? Goethe? Schiller? So lange lag die Schulzeit ja noch nicht zurück. Die paar Jahre. Nein. Keiner von denen. Und das andere Extrem? Aber nein. Die schon gar nicht. Nicht selbst ernannte Netzgurus. Wie lachhaft! Schließlich war das ein Sager mit Gehalt.)
War’s der Christian Morgenstern?
Scheißegal. Entscheidend war, jetzt und hier, dass die Menschenmenge, die sie keine hundert Meter voraus im Laternenschein ausmachte, sich in Luft auflöste. Am besten sofort. Ehe sie selbst dort ankamen. Schließlich waren sie nicht zum Vergnügen hier. Julia und Sarah. Zwei Ladies auf … Mission … andererseits … mmhhmm …
Und dann kannte Julia zum Thema noch diesen hier:
Treu bis in den Tod sind nur die Dummköpfe. Die Treue hat ihre Grenze im Verstand.
Der, wusste sie, war wie der Griff ins Klo. Oder auf die zweischneidige Klinge eines Schwertes. Frisch geschliffen, versteht sich. Da wie dort mit bloßen Händen, versteht sich. Das konnte nicht gutgehen. Auch wenn sie sich oft genug genau darin wiederfand.
Ja. Exakt so würde es auch heute Abend laufen. Ob es ihr nun gefiel oder nicht. Sie hatte es im Blut. Weil sie ihre Pappenheimer längst kannte. Weil es einer dieser Abende war, die sie ebenfalls nur zu gut kannte. Einer dieser Abende, dem das Übel vorauslag, obwohl er aufs rechte Gegenteil getrimmt war. Einer dieser vordergründig herrlichen, zauberhaft lauen Abende, die einem schon mal das Herz übergehen, die einen tief nach Atem schöpfen lassen konnten im trügerischen Glauben, nichts wäre mächtig genug, die Stimmung zu trüben.
Oh ja. Sie konnte es verdammt nochmal riechen. Gerade so verhielt es sich jetzt und hier. Alles ringsum wie in Watte gepackt, und die schwüle Lust nach Aufbruch greifbar. Von schräg gegenüber funkelten die Nachtlichter der beiden Museumsriesen herüber. Die Schlussakkorde von Wagners Walküre in der Staatsoper im Rücken hingen noch vage in der Luft. Und aus dem Burggarten zur Rechten trug eine sanfte, nur mäßig kühlende Brise unwiderstehliche Aromen heran.
Bestimmt Jasmin. Oder wenigstens Rosen.
Julia wusste, dass es um diese Jahreszeit in Wirklichkeit nach feuchter Erde und Moos und gewärmten Blättern roch, tatsächlich also modrig und faulig. Doch das, sagte sie sich, sollte nichts zur Sache tun. Insgeheim wollte auch sie an das Ungetrübte glauben. Wie all die Menschen ringsum, denen diese Hoffnung auf die eine oder andere Stunde Unbeschwertheit in die Gesichter geschrieben stand. Einfach ausblenden, dass dort, wo sie und Sarah hinwollten, womöglich ganz andere Gerüche vorherrschen würden. Wenn alles nach Plan lief. Nach wessen Plan eigentlich? Ausdünstungen, die nach menschlicher Niedertracht stanken.
Nein. Daran wollte Julia noch gar nicht denken. Nicht jetzt. Lieber ausblenden. Wie auch die miefige Abgasglocke der vierspurigen Ringstraße, die die Abendstunden nicht fortzublasen vermocht hatten und in deren Riechweite sie beide standen. Julia und Sarah. Einfach ausblenden. Und stattdessen den Duftmolekülen der Vorstellung und ihren eigenen Melodien erliegen. Weil