Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt. Mark Lambertz

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Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt - Mark Lambertz

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gelegt werden. Dieses gestaltet sich nach dem Prinzip der russischen Puppen – «Matrjoschka», aus Holz gefertigte, bunt bemalte, ineinander schachtelbare Puppen. In ihren Grundzügen sind sich diese drei Systeme sehr ähnlich, aber sie können nur in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit verstanden werden.

      Die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Unternehmen sind komplexe Systeme, sie setzen Wertvorstellungen um, sie sind im Prinzip dem Gemeinwohl verpflichtet, und sie dienen dem Wohlergehen der Menschen. Diese Eigenschaften bestimmen die Möglichkeiten und Grenzen unternehmerischen Handelns. Aber nur durch eine grundlegende Einsicht in das Zusammenspiel von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen lassen sich die unternehmerischen Spielräume optimal erkennen und nutzen.

      Das Denkmuster der russischen Puppen ermöglicht den Zugang zum wichtigsten Bindeglied von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen: Sie alle sind komplexe Systeme. Diese lassen sich weder analytisch noch statistisch noch mittels «Big Data» vollständig erfassen und abbilden. Sie zeichnen sich durch Eigendynamik aus und lassen [30] sich deshalb nicht prognostizieren. Und sie lassen sich auch nicht direkt steuern oder «managen». Und trotzdem gibt es Wege, sich mit und in ihnen zurechtzufinden.

      Armin NASSEHI (2017) charakterisiert auf eindrückliche Weise die Gesellschaft als komplexes System. Sie zeichnet sich durch verteilte Intelligenz aus, wobei eine Vielzahl von eigenständigen Logiken miteinander konkurrieren, ohne dass sie sich aufeinander abbilden lassen. Wirtschaft, Politik, Kultur, Medien, Wissenschaft, Rechtssystem haben ihre eigenen Problemlösungsperspektiven, die sie stets weiter optimieren. Sie definieren sich in ihrer Perspektivendifferenz zu den anderen Bereichen und kämpfen um die «narrative Autorität». Die Lösung (oder besser Bewältigung) für die Gesamtheit der Gesellschaft wichtiger Probleme ist deshalb äußerst schwierig. Nicht nur die Interessen, sondern auch die jeweiligen Sprachen lassen einen Diskurs nicht zu. Der streitbare Philosoph Peter SLOTERDJIK hat dies treffend mit einem Bonmot unter Verweis auf die Systemtheorie des Soziologen Niklas LUHMANN festgehalten:

      «Mir kommen die Welt von heute und ihre Debatten mit jedem Tag mehr vor wie ein aus dem Ruder gelaufenes Luhmann-Seminar.» (SLOTERDJIK 2018)

      Diese Problematik wird gegenwärtig durch die Erstarkung der «Identity Policy» (FUKUYAMA, 2018) noch verschärft. Die politischen Grenzen zwischen «Links» und «Rechts» verwischen sich zusehends, die Menschen fühlen sich Minoritäten zugehörig und schotten sich gegen die Andersdenkenden ab. In unseren Breitengraden sind dies etwa die Bauern gegen die Befürworter von Freihandelsverträgen, die Velofahrer gegen die Automobilisten oder die Vegetarier/Veganer gegen die Fleischkonsumenten. Hier Verbindendes zu finden, erweist sich zunehmend als schwierig bis unmöglich.

      Wir versuchen, die Gesellschaft aus der Sicht der Logik der Wirtschaft zu erklären – das erweist sich aber als Illusion!

      Als weiteres Element der Komplexität führt NASSEHI (2017) an, dass der angestrebte Umbau der Gesellschaft dazu führt, dass diese sofort auf die Eingriffe reagiert. Damit sind diese Aktivitäten immer unterkomplex, sie schaffen neue Konstellationen, die wiederum Interessengruppen auf den Plan rufen. Wie gehen wir aber mit dieser Komplexität [31] um, schließlich müssen wir uns irgendwie zurechtfinden? NASSEHI (2017) präsentiert eine verblüffende Einsicht: Wir versuchen, die Gesellschaft aus der Sicht der Logik der Wirtschaft zu erklären und die Ökonomie für gesellschaftliche Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen. Folglich wird der Kapitalismus an den Pranger gestellt, freie Märkte werden reguliert, «Big Data» wird als Mittel der Revitalisierung der Planwirtschaft angepriesen. Dies alles in der Erwartung, damit eine Komplexitätsreduktion zu erreichen und schließlich unsere gesellschaftlichen Verwerfungen interpretieren und bewältigen zu können. Dies erweist sich aber als Illusion, da auch die Wirtschaft ähnlich komplex ist wie die Gesellschaft, nach gleichen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und nicht dadurch prognostizierbar wird, dass man mit deterministischen Modellannahmen arbeitet.

      Die Wirtschaft ist auch ein «komplexes adaptives System» – eher ein Ökosystem als eine Maschine – und kann nicht komplett durchschaut, verstanden oder kontrolliert werden.

      So ortet der Chairman des Economic and Development Review Committee der OECD, William WHITE (2018), die Hauptursache der steigenden globalen Verschuldung in einem mangelnden Verständnis für die wirtschaftlichen Zusammenhänge. Er kritisiert die Annahme, dass die Struktur der Wirtschaft sowohl durchschau- als auch beherrschbar sei. Dies ist populär, aber falsch, wirtschaftliche Systeme weisen emergente Eigenschaften auf, und es gibt kein Gleichgewicht in solchen Systemen. Wie die Gesellschaft besteht die Wirtschaft aus verschiedenen Sektoren mit jeweils unzähligen Akteuren. Diese verfolgen ihre Ziele individuell nach einfachen Regeln, und Wechselwirkungen und Rückkoppelungseffekte führten zu unerwarteten Ergebnissen oft nicht linearer Natur.

      Wie die Gesellschaft und die Wirtschaft weisen Unternehmen Eigenschaften auf, die deren Steuerung oder gar «Beherrschung» verunmöglichen. Unternehmen sind grundsätzlich komplex, wenn auch nicht so stark von Interessengruppen getrieben wie die Gesellschaft oder die Wirtschaft. Aber auch hier gibt es keinen Königsweg auf der Basis stark vereinfachender Managementansätze und -modelle. Dies wird im Verlauf dieses Buches aus verschiedensten Perspektiven zu illustrieren sein.

      Im Unternehmenskontext erweist sich die «Helikoptersicht» als bewährtes Vorgehen bei der Umsetzung des Prinzips der russischen Puppen. Bevor Führungskräfte eine Problemsituation in Angriff nehmen, steigen sie – bildlich gesprochen – zuerst in den Helikopter und erheben sich hoch über das Gelände. Von dort sehen sie das Unternehmen eingebettet in die Gesellschaft und die Wirtschaft. Sie gewinnen Einsicht in die großen Zusammenhänge und können sich erste Gedanken über ihre Handlungsoptionen [32] machen. Dann landen sie mit dem Helikopter an einem genau spezifizierten Standort – beispielsweise dem Marketing – und gewinnen dort eine umfangreiche Bodenprobe. Diese nehmen sie wieder in ihrem Helikopter auf jene Flughöhe mit, die eine Interpretation der gewonnenen Daten im größeren Kontext von Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft erlaubt.

      Das Prinzip der russischen Puppen wird in Kapitel 2 ausführlich zur Anwendung kommen. Das Viable System Model (BEER, 1972), das dort als Landkarte der reflektierenden Praktiker vorgestellt wird, hat die Eigenschaft der Rekursivität. Ein lebensfähiges System besteht aus Subsystemen, die ihrerseits ebenfalls die Eigenschaft der Lebensfähigkeit aufweisen.

      Für das Denken und Handeln der reflektierenden Praktiker bedeuten diese Erkenntnisse Folgendes:

      — Gewinne aus «Helikoptersicht» einen Überblick über die Einbettung der Führungssituation!

      — Betrachte die Zusammenhänge von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen durch die verbindende «Komplexitätsbrille»!

      — Verstehe deine Handlungsoptionen als Eingriffe in unvorhersehbar reagierende Gebilde!

      — Vermeide Scheinlösungen durch unzulässige Vereinfachungen deiner Grundannahmen und Denkmodelle!

      Denkmuster 3: Die Einheit von Freiheit und Verantwortung

      Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft, Respekt vor privatem Eigentum, freier Wettbewerb und Mut zum Risiko sind Eigenschaften einer liberalen Weltsicht, wie sie in diesem Buch vertreten werden. Wir machen uns dabei die Argumente von Karl POPPER («Die offene Gesellschaft und ihre Feinde», Nachdruck 2003), Friedrich von HAYEK («Der Weg zur Knechtschaft», Nachdruck 2003) und Isaiah BERLIN («Freiheit», 1969) zu eigen. Kern ist ein freiheitliches Menschenbild, das ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten umfasst. Der Staat darf die Freiheit des Einzelnen nur beschränken, wenn diese die Freiheit und die Sicherheit Anderer bedroht. Der Staat übernimmt im liberalen

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