Klingen, um in sich zu wohnen 1. Udo Baer

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Klingen, um in sich zu wohnen 1 - Udo Baer

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ihren Armen, die sie wie leblos und als nicht zugehörig zu sich erlebt. Sie wirkt auf die Therapeutin deshalb auch ein wenig wie ein etwa 12- oder 13-jähriges Mädchen, das im Singen lebt, aber mit seiner Stimme nicht wirklich bei einem Gegenüber „landet“: ein wenig einsam, resigniert und ungeschützt dem fehlenden Echo ausgeliefert. Die Therapeutin schlägt deshalb vor: „Nimm irgendetwas in die Arme, was du dir vor deinen Oberkörper halten kannst. Und stell dir vor, du bist z. B. Montserrat Caballé.“

      Die Klientin greift zu einem großen Teddybären, den sie mit dem Gesicht nach vorne vor ihren Bauch hält. „Und nun schaffe dir bitte eine Bühne. Wo ist dein Publikum?“ Nachdem die Klientin sorgfältig ihre Umgebung gestaltet, die Bühne bestimmt und die Gruppe auf ihre Plätze gewiesen hat, singt sie mit dem Teddy vor dem Bauch mit solch beeindruckender Ausdruckskraft, dass die Gruppe standing ovations gibt und begeistert ein Da-capo verlangt. Endlich hat die Stimme der Klientin die Wertschätzung und Würdigung erfahren, die ihr gebührt.

      Eine andere Frau, die ebenfalls ihre Stimme sehr kräftig hört und damit eigentlich sehr zufrieden ist, stellt fest, dass ihr nach dem Tönen die Halsmuskeln vor lauter Anspannung weh tun. Der Therapeutin ist aufgefallen, dass die Klientin beim Singen den Blick leicht nach oben richtete und dabei offensichtlich den Hals überstreckte, während gleichzeitig ihr Rückenbereich und der Raum hinter ihr merkwürdig unbelebt erschien. Deshalb der Vorschlag, in den zum einen die Leibbewegungskategorien oben – unten (s. Kap. 3.2.4) und hinten – vorne (s. Kap. 3.2.1) einfließen sowie das Wissen darum, dass die Klientin kompetent darin ist, anderen Menschen afrikanisches Trommeln zu lehren: „Was hältst du davon, Menschen aus dieser Gruppe hinter dir zu sammeln und mit ihnen einen rituellen Tanz, begleitet und angefeuert von deiner Stimme, zu machen zum Thema: ‚Ich beschwöre die Geister des Himmels und die Geister der Erde’?“

      Dieser Versuch verhilft der Klientin zu einer Erfahrung und Erkenntnis darüber, was sie braucht, um entspannt und kräftig, eben eigen, zu erklingen.

      Eine dritte Gruppenteilnehmerin holt sich einen großen Stoff-Löwen aus dem Regal, bevor sie ihre eigene Stimme, die sie sonst nur ganz für sich allein erklingen lässt, den anderen GruppenteilnehmerInnen zu Gehör bringt: „Ich brauche den Löwen des Mutes.“ Sie schließt die Augen und tönt. Die Therapeutin: „Ich weiß, dass das Wichtigste bereits passiert ist, nämlich, dass du deine Stimme hast hörbar werden lassen, dass du deinen Weg gefunden hast, durch Scheu und Scham hindurch. Daran gibt’s meiner Meinung nach nichts zu verändern, oder? Wenn du dennoch jetzt hier noch etwas ausprobieren möchtest, dann suche dir doch eine Person, die du anschauen kannst, um mit ihr oder durch sie Mut zu schöpfen. Gibt es so einen Menschen hier, der dich mit seinem Blick unterstützen kann?“ Die Klientin weiß sofort, wen sie für diesen Versuch wählen mag und ist zufrieden und erleichtert, erleben zu können, dass sie Mut nicht immer nur aus sich allein heraus schöpfen muss – eine Erfahrung, die sie für ihr Alltagsleben generalisieren kann und will.

      Alle diese Interventionen sind Vorschläge und Angebote. Nie weiß die Therapeutin, der Therapeut den einen „richtigen“ Weg, die Stimme „eigenstimmiger“ erklingen zu lassen. Immer gilt es, an Hand der beschriebenen Anhaltspunkte ein Experiment vorzuschlagen, zu dem die Klientin, der Klient Nein sagen kann oder in dem er bzw. sie die eigene Stimme erproben kann.

      Auf welch unterschiedliche Weise Menschen das Erleben ihrer eigenen Persönlichkeit mit Elementen der Musik verknüpfen, erstaunt und überrascht uns immer wieder. Von solchen Verknüpfungsmöglichkeiten zu wissen, kann hilfreich sein, um KlientInnen gezielt danach zu fragen und ihnen Brücken zu bauen, sich selbst und ihr Erleben genauer zu beschreiben und zu verstehen, Einsichten zu gewinnen (vgl. Kap. 20.6).

      Viele KlientInnen beschreiben sich im Vergleich zu Klängen oder musikalischen Ausdrucksformen. Ein Mann erzählte, dass er fast ausschließlich leichte Musik höre: „Es muss möglichst leicht und heiter sein. Wenn ich Musik höre, die für mich schwer und spannend ist, dann halte ich das nicht aus. Davon bin ich selber zu voll. Ich mag eigentlich Wagner ganz gern, hören kann ich ihn aber nur in kleinen Dosierungen. Ich brauche eher etwas, was ein Gegenteil von mir ist.“ Eine Frau meinte: „Ich bin wie ein Musical: Immer ist was los!“ Häufig werden Eigenschaften und Qualitäten der eigenen Person mit musikalischen Qualitäten beschrieben. Dabei werden Begriffe verwendet, die uns später bei den Leibbewegungen (s. Kap. 3) und Erregungsverläufen (s. Kap. 5) wieder begegnen werden: Wie eben wird von „Spannung“ gesprochen oder von „Schwere“ und „Leichtigkeit“; jemand beschreibt sich als „Mensch der leisen Töne“; jemand anderes vergleicht sein Chaos und seine Unruhe mit einem „Free-Jazz-Konzert“. Wenn wir jemanden kennen lernen wollen, fragen wir manchmal: „Wenn Sie ein Musikstück wären, welches wären Sie?“ Die Antworten reichen von Pink Floyd bis zur Verdioper, vom Schlager bis zum verschollenen Pianostück, das niemand kennt.

      Auch Vergleichen oder Identifikationen mit Instrumenten begegnen wir, wenn KlientInnen sich oder andere Menschen beschreiben. „Mein Vater war wie eine Pauke. Immer laut, immer den Takt angebend. Meine Mutter versuchte als Trompete dagegen zu halten. Auch laut. Aber ohne die Pauke stoppen zu können.“

      „Welches Instrument waren Sie?“

      „Meist eine Blockflöte, die nur von sich selber gehört wurde.“

      „‚Ein Quintett betritt die Bühne’“, so protokolliert die Musiktherapeutin Christiane Hecker die Aussagen ihrer Klientin im gemeinsamen musiktherapeutischen Prozess. Sie hatte sie gebeten, sich vorzustellen, sie beide säßen mit geschlossenen Augen im Konzertsaal. Angekündigt sei die musikalische Aufführung des Stückes „Familie beim Mittagessen“, sie beide seien Zuhörerinnen. Die Klientin möge erzählen, was sie sähe und höre. „‚Es beginnt mit einer durchgehend in Dur-Dreiklängen gehaltenen, leicht eingängigen Melodie ohne besondere Höhen und Tiefen, gespielt von Mutter Bratsche. Wenn ich genau hinhöre, erkenne ich dazu ein später einsetzendes Tochter-Glockenspiel, das offenbar nicht die richtige Tonart finden kann oder anders als die Bratsche gestimmt ist (vielleicht pentatonisch?), aber dennoch versucht, im Einklang mit ihr zu spielen, was ihm auch erstaunlicherweise gut gelingt, da es die Melodie und den Rhythmus imitieren kann. Mit wachsender ‚Harmonie’ wird das Glockenspiel etwas kräftiger (mezzoforte), klingt aber dabei sehr bemüht.

      Etwas später als das Glockenspiel setzt dann Sohn Rassel ein, der offenbar nicht unbedingt die Aufgabe zu haben scheint, mit den anderen zusammen zu spielen, der jedoch gerne mit dem Tempo und der Geschicklichkeit des Glockenspiels mithalten möchte und dabei gleichzeitig auf den Rhythmus der Bratsche achtet. Ganz schön schwierig, was der Komponist sich da ausgedacht hat! Nach einem eher angestrengt wirkenden ersten Satz klingt es trotz der unterschiedlichen Instrumente im zweiten Satz ganz gut zusammen und inzwischen stimmt auch die Tonart; offensichtlich haben die drei schon eine längere gemeinsame musikalische Erfahrungen und sind entsprechend aufeinander eingespielt …

      Und was höre ich jetzt? Ein Blasinstrument – Großvater Horn – mal nah dran, mal weiter weg, aber immer relativ laut und munter, hat wohl eine komplett eigene Stimme geschrieben bekommen, klingt wie Volkslied oder Operette, oft lustig, und scheint die anderen nicht zu stören. Die Bratsche spielt nun abwechselnd mit etwas mehr Vibrato (klingt gut) und mehr Höhen, aber manchmal auch verhaltener. Glockenspiel und Rassel werden lebhafter und das Horn tritt öfter solo auf. Insgesamt hat die Musik durch das Horn einen anderen Charakter bekommen, so ähnlich wie bei einem Satzwechsel vom Andante zum Scherzo. Tut gut!

      Aber was ist nun los? Ich spüre, dass sich die ganze Atmosphäre verändert,

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