Lasst uns um Europa kämpfen. Nini Tsiklauri
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Für Georgien hieß das die langersehnte Freiheit, das Land erlangte seine Unabhängigkeit. Gleichzeitig aber steckte es in einer tiefen Wirtschaftskrise. Russland hatte 1990 eine Wirtschaftsblockade verhängt, unter der Georgien fast in die Knie ging. Dazu der Bürgerkrieg in den georgischen Regionen Südossetien und Abchasien. Im Westen wurden die Kämpfe als von Georgien ausgehende Rückeroberung zweier Provinzen ausgelegt. In Wahrheit nutzte Russland die Separatisten in Abchasien und Südossetien für Massenmord und Vertreibung der dort lebenden Georgierinnen und Georgier. Eine Viertelmillion Menschen wurde dort aus ihrer Heimat vertrieben. Aus der langerkämpften Hoffnung meiner georgischen Landsleute auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit war schnell ein Albtraum geworden.
Gescheitert und um Macht ringend, hielt Moskau an etwas fest, das der Hoffnung die Kehle zudrückte. Die knapp vier Millionen Georgier in diesem kaum siebzigtausend Quadratmeter kleinen Land fühlten sich ihrer Zukunft beraubt. Und ich spreche da nicht von lebensfremder Politik. Ich spreche von Realität und Alltag. Von persönlichem Erleben. Wie alle anderen war auch meiner Familie und mir die Aussicht auf ein Leben in einem offenen Land genommen. Verwehrt, bis zum heutigen Tag. Zerstört war die Perspektive Georgiens, jemals ein Teil der westlichen Welt, der EU oder der NATO zu werden.
Da bin ich also, 1993, ein Baby, noch kein Jahr alt. Ich liege in den Armen meiner jungen Eltern an einer großen, alten postsowjetischen Bus-Station, umgeben von Bürgerkrieg, Wirtschaftskollaps, Arbeitslosigkeit, Elend und Armut. Meine Großmutter, so erzählte man es mir, wischt sich hastig die Tränen von den Wangen. Tränen nützen nichts in Momenten wie diesen. Wir müssen stark bleiben, das war schon immer der Satz, der die Familie aufrecht und zusammenhielt.
Die Monate davor hatten wir bei Oma auf dem Land verbracht. Tiflis war ein gefährliches Pflaster geworden, insbesondere mit einem Baby wie mir. Die Hauptstadt stand mitten im Schusswechsel. Doch die Umstände waren auch am Land immer schlechter geworden. Die lückenhafte Lebensmittelversorgung, die kaum vorhandene Infrastruktur, die organisierte Kriminalität, ein kleines Land lag in einem riesigen Scherbenhaufen.
Das größte Ziel meiner Eltern war eine lebenswerte Zukunft für ihre Kinder. Wir sollten es später nicht nur besser, wir sollten alle Chancen haben. Wie die Dinge lagen, war das in Georgien nicht möglich. So etwas geht nur auf der Basis einer guten Ausbildung. Und die fänden wir nur in Europa. Europäische Bildung, das war also die Parole.
Eine gute Ausbildung in Europa war das einzige Fundament, auf dem sich alle Möglichkeiten aufbauen ließen. Sie war die Voraussetzung für alles. Nur mit dem Rüstzeug einer solchen Bildung konnte etwas aus uns werden, und nur diese Bildung konnte uns in die Lage bringen, später auch hier, vor Ort in unserer Heimat, etwas zu bewegen. Unsere einzige Zukunft lag also darin, die Heimat zu verlassen.
Davon waren meine Eltern überzeugt, und sie überzeugten meine Großeltern. Obwohl überzeugen vielleicht etwas zu hoch gegriffen ist, eher war es ein Überreden. Jedenfalls stimmten sie der großen Reise zu. Meine Oma gab mir einen letzten Kuss, bevor mich mein Vater zum Bus trug. Meine Eltern verstauten unser Gepäck, setzten sich und hielten mich so, dass Bebo mich durchs Fenster gut sehen konnte. Die Tränen flossen jetzt ungehindert, mit dem Abwischen kam sie nicht mehr hinterher. Sie winkte mit ihrem Taschentuch wie mit einer weißen Fahne, während der Bus anfuhr. Es war Abend, die Sonne ging langsam unter. Wir brachen auf in die Nacht, voller Hoffnung auf ein besseres Leben. Wir brachen auf nach Westen.
UNGARN
Unser Ziel war Ungarn. Kiskunhalas, eine kleine Stadt 130 Kilometer südlich von Budapest. Als wir ankamen, fühlte es sich friedlich an, wie auf einem anderen Stern. Das erzählten mir zumindest meine Eltern, mein Gedächtnis war noch zu jung für Erinnerungen. Meine ersten Eindrücke sind vage, eine auffallende Stille, gefüllt mit dem Geruch von Paprika. Später begeisterten mich die Konditoreien mit ihren Süßigkeiten, das fließende und saubere Wasser aus den Hähnen und der Strom aus der Steckdose.
Die Sprache lernte ich ohne Probleme, einerseits war ich klein genug, um sie fast wie eine Muttersprache anzunehmen, andererseits hatten wir schnell Anschluss und daher mehr Möglichkeit zur Kommunikation. Wir hatten das Glück, ein paar Menschen zu begegnen, die uns, vor allem meinen Eltern, das Gefühl von Daheimsein gaben. Insbesondere unsere Nachbarn, deren Kinder Lilly und Tom zu meinen besten Freunden wurden. Ich konnte rasch aktzentfrei Ungarisch und übersetzte für meine Eltern. Obwohl Ungarisch eine komplizierte Sprache ist, dauerte es nicht lange, bis sie sich selbst zurechtfanden. Das Talent dafür dürfte in der Familie liegen, mit Deutsch, auch keiner ganz einfachen Sprache, sollte es später ähnlich flink gehen. Als mein Bruder George auf die Welt kam, war ich längst an meine neue Umgebung gewöhnt.
Nini Tsiklauri, ein Mädchen in Ungarn.
Mit vier Jahren schickte mich meine Kindergärtnerin mit meiner Mutter zu einem IQ-Test in die nächstgrößere Stadt. Danach beschloss man, mich umgehend in die Schule zu schicken. Die Pädagoginnen waren der Meinung, mich fördern zu müssen und setzten mich dann gleich mal in die zweite Klasse. Im Hinblick auf die Bildung, die meine Eltern für uns im Sinn hatten, war das eine tolle Neuigkeit. Für mich in der Praxis war es weniger toll.
Im Gegensatz zu den anderen war ich winzig, hatte lange dunkle Haare und eine dunklere Haut, kurz gesagt: Ich sah anders aus als meine Mitschüler. Ich war also nicht nur zwei Jahre jünger, sondern auch sonst nicht das, was mich als Spielkamerad ausgewiesen hätte. So schnell wir uns im Land eingewöhnt hatten, so unmöglich gelang das in der Schule. Meine Mitschüler gaben mir meistens das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Einige erklärten mir, warum. Sie als »helle« Menschen mit blaueren Augen und blonderen Haaren wären die besseren Ungarn als die »dunkleren« wie ich. Das war die lange Erklärung. Die kurze hörte ich in den Pausen, wenn sie mich »Zigeunerin« riefen.
Ich konnte mit dem Begriff damals nichts anfangen, also fragte ich meine Eltern, was damit gemeint war. Sie wussten gar nicht, wie sie es mir beibringen sollten. Ihnen brach das Herz, dass ich immer öfter mit ähnlichen Fragen nach Hause kam. Und dann merkten wir es auch in der Umgebung. Es waren nicht bloß die Kinder, auch die Erwachsenen machten einen Unterschied zwischen den hier Geborenen und uns Zugezogenen, noch dazu aus einem Land jenseits des Schwarzen Meeres. Im Allgemeinen begegnete man uns nicht so freundlich wie unsere Nachbarn.
Meine Eltern nahmen mich aus der Schule und suchten eine neue für mich. Die Schüler waren andere, die Einstellung blieb dieselbe. Ich wechselte die Schulen dreimal hintereinander, es machte keinen Unterschied. Die Situation verbesserte sich nicht, nicht einmal an einer modernen englischen Schule in Budapest.
Wir lebten in einem Kontrastreich. Hier die großartigen Freundschaften, die unsere Familie in Ungarn schloss, für die wir sehr dankbar sind, und die bis heute bestehen. Dort der Hass gegenüber uns als Fremde, den man uns deutlich zu spüren gab, und der zum Alltag gehörte. Egal, wie sehr man sich zu integrieren bemühte, wir blieben die Ausländer. Egal, wie akzentfrei und fließend man die Sprache sprach, es war nie dieselbe. Wir waren Fremdkörper in der ungarischen Gesellschaft.
Nach sieben Jahren beschlossen meine Eltern, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Wir packten unser Leben zusammen und kehrten in die alte Heimat zurück. Das heißt, Heimat war es nur für unsere Eltern. Ich war als Baby hier angekommen, mein Bruder überhaupt erst hier geboren. Unsere Erinnerung an das Land, das wir 1993 mit dem Bus verlassen hatten, waren nicht spärlich, es gab sie schlichtweg nicht. Für meine Eltern war es eine Reise in die Vergangenheit. Für mich und meinen Bruder war es eine Reise ins Unbekannte. Ich war sieben Jahre alt.