Das geschenkte Mädchen. Martin Arz
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»Das wäre doch was für unsere Frau Scholz. Bella, machst du das?« Pfeffer warf seiner jungen Kollegin die Tonfigur zu. Annabella Scholz fing die kleine Kostbarkeit mit einer Hand auf. »Alle Figuren zählen. Und herausfinden, was uns die Figur in der Blutlache sagen will, sofern sie was zu sagen hat und nicht nur zufällig da herumsteht.« Pfeffer deutete auf die Holzpuppe neben der Leiche. »Versuch jemanden aus Westphals Familie aufzutreiben. Irgendwelche Verwandtschaft wird er ja wohl gehabt haben. Eltern, Geschwister, Cousins. Lieferscheine checken, Kontoauszüge, Geschäftsverbindungen, das ganze Pipapo eben.«
Annabella Scholz, die immer etwas zu salopp und jugendlich-cool gekleidet war, um in Paul Freudensprungs Augen wirklich attraktiv zu sein, nickte und fuhr sich durch ihre blondierte Mähne. Dann warf sie Pfeffer die Nok-Figur zurück.
Er brauchte beide Hände, um die Preziose sicher zu fangen. Der Kriminalrat fühlte sich auf einmal so unendlich müde. Das ganze Pipapo eben. Immer Routine, immer ein Toter, immer im Dreck wühlen. So viel Motive gab es nicht. Geld oder Liebe. Ausnahmen bestätigten die Regel. Pfeffer wünschte sich manchmal was richtig Kniffliges, einen Fall, der größere Dimensionen hatte. Etwas zum Festbeißen und Routinevergessen. Natürlich machte ihm jeder Fall irgendwo Spaß, sofern man bei Mord von Spaß reden konnte. Sicherlich war jeder Fall für ihn eine Herausforderung, mal dauerte es länger, bis sie den Täter schnappten, meist ging es jedoch recht schnell. So, wie es in diesem Fall sein würde. Vermutlich reichte es schon, den Kalender des Toten zu filzen. In spätestens zwei bis drei Wochen würden sie dann bestimmt herausfinden, dass entweder eine eifersüchtige Gespielin zum Messer gegriffen hatte, die ihnen dann schluchzend gestehen würde: »Ich konnte nicht anders, dieses Schwein …«, oder sie würden einen Verwandten in Geldnot verhaften, der beim Klauen einer wertvollen Figur, die er dann an einen Hehler verschachern wollte, von Doktor Westphal überrascht worden war. Pfeffer gähnte innerlich.
»Schau nicht so gelangweilt drein, Maxl«, sagte die Rechtsmedizinerin und ließ ihre Gummihandschuhe spielerisch in Richtung Pfeffer schnalzen. »Stell lieber das Tonpüppchen wieder hin, sonst machst du es noch kaputt. Sieht mir verschärft nach Nok aus.«
»Das steht da auch drauf. Du kennst dich aus mit so was, Pettenkoferin?« Pfeffer war ehrlich erstaunt.
»Ich fresse nicht nur Kuchen in mich rein, Maxl«, kokettierte Doktor Gerda Pettenkofer mit ihrer gewaltigen Leibesfülle. »Hab neulich was gelesen, dass diese Nok-Sachen sauviel wert sind und jetzt auch in den Louvre aufgenommen wurden. Chirac höchstpersönlich hat ein paar solcher Figuren von einem belgischen Händler erstanden und dem Louvre geschenkt. War ein ziemlicher Skandal in Frankreich, denn wie sich schnell herausstellte, waren diese Figuren aus einem Museum in Nigeria gestohlen und …« Die Rechtsmedizinerin brach ab, weil Pfeffer sie mit demonstrativem Desinteresse anstarrte.
Pfeffer und Kunst, da prallten oft genug zwei Welten aufeinander. Wenn es um Jazz, vor allem Nu- und Acid-Jazz ging, war er in seinem Element. Doch bei Malerei und Bildhauerei stieg er freiwillig aus, gut, zugegeben, er hatte in den letzten Jahren hauptsächlich durch seinen Freund Tim dazugelernt – aber egal, was er vor allem liebte, waren die Kabbeleien mit Doktor Gerda Pettenkofer.
»Louvre?!«, wiederholte die Pathologin betont langsam. »Mona Lisa. Museum. Paris. Kultur. Du verstehen?«
»Nö. Kann man das essen?« Pfeffer zündete sich eine Zigarette an. »Und wer oder was ist Nok? So jemand wie Picasso? Ein afrikanischer Picasso?«
»Ach, Maxl!« Gerda Pettenkofer seufzte und verdrehte die Augen. »Das ist ein afrikanisches Volk. Oder war eins. Ausgestorben oder so. Ehrlich, ich habe nix damit zu tun! Die Sachen sind deshalb so viel wert, weil sie antik sind und bei Ausgrabungen gefunden wurden. Frag mich nicht, wo und wann. Okay?! Mehr weiß ich nicht. Echt nicht! Ihr könnt mich ruhig weiter mit euren Gestapo-Verhörmethoden fertig machen, ihr Bullenschweine!« Gerda machte eine trotzig abwehrende Handbewegung wie ein jugendlicher Hobbydealer, der schon nach wenigen Minuten Verhör weichgeklopft war und noch einmal den coolen Macker markierte, bevor er detailliert seine Hintermänner verpfiff. »Scheißbullen. Ich sage keinen Ton mehr! Gib mir lieber ’ne Kippe.«
»Du siehst auch ganz schön fertig aus, Gerda.« Pfeffer schmunzelte und gab ihr noch Feuer zur Zigarette. »Faschingsparty? Oder probierst du wieder eine neue Diät aus?«
»Weder noch, Maxl«, seufzte die Medizinerin und blies eine Kette von unförmigen Rauchringen aus, die ungelenk durch den Raum eierten, bevor sie sich auflösten. »Das mit dem Abspecken habe ich längst aufgegeben. Mir schmeckts einfach zu gut. Und letzten Herbst hast du nicht mal bemerkt, dass ich fünfundzwanzig Kilo abgenommen hatte. Ne, ich musste schon heute früh um fünf raus. Deine Kollegen haben eine völlig verkohlte Leiche in der Isar bei Wolfratshausen gefunden.«
»Verkohlte Leiche unter Wasser. Dann tippe ich auf Selbstmord.«
Die Pettenkoferin lachte dröhnend. »Ach, Maxl. Sah jedenfalls verdammt nach Profiarbeit aus. Wir werden vermutlich eine Ewigkeit brauchen, bis wir die Leiche identifiziert haben, wenn uns nicht die Vermisstenkartei weiterhilft. Und bei dem hier«, sie deutete auf die Leiche von Doktor Westphal, »tippe ich auch auf Profiarbeit. Sauber mit einem Stich die Bauchschlagader durchtrennt. Wenn es ein Mord im Affekt gewesen sein sollte, hat der Täter halt einfach Glück gehabt. Oh, pardon, so sollte ich nicht reden. Aber ich schätze, es war ein Profi, der wusste, was er tat. Genauer Bericht erst in zwei Tagen. Das Bündel verkohlter Knochen aus der Isar geht momentan vor.«
04 Helene biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. Was sollte sie sagen, wenn sie der Alten gegenüberstand? Sie inhalierte tief, pumpte die Lungen voll eisige Luft. Beim Ausatmen beobachtete sie den Kältenebel, der aus ihrem Mund strömte. Herrliches Wetter für einen Winterspaziergang. Die Sonne strahlte grell, der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Eigentlich könnte sie jetzt einfach weitergehen, hinunter zur Isar und in den Isar-Auen ein wenig herumbummeln. Vielleicht sah sie ein paar sportliche Ski-Langläufer oder herumtollende Hunde. Oder sie könnte auch ein wenig tagträumen, wie sie es manchmal tat. Sich Szenen aus den Aufzeichnungen von Leopold Konrad Frese vor ihr geistiges Auge rufen und ausschmücken. So wie die Szene mit der Schwarzen im europäischen Straßenkostüm, Frau Häuptling. Helene kannte die Stelle – wie auch zahlreiche andere – fast auswendig und malte sich aus, wie die große, würdevolle ebenholzfarbene Königin im raschelnden Seidenkleid, das Gesicht umrahmt von feinen Spitzen, auf dem Kopf ein Wagenrad von einem Hut, mitten im smaragdgrünen Urwald auf eine sonnenumschmeichelte Lichtung trat. Papageien jeglicher Couleur umschwirrten die majestätische Erscheinung …
Helene tagträumte und ging ein paar Schritte an dem Haus vorbei. Sie war sich durchaus bewusst, dass ihre Phantasien immer kitschtriefender und exotischer wurden. Schluss damit, sagte sie zu sich selbst. Helene gab sich einen Ruck und kehrte um. Sie hatte einen Plan gehabt, und nur weil die Sonne schien, konnte sie ihn nicht einfach so aufgeben. Dazu hatte sie viel zu lange auf diese Gelegenheit gewartet. Sie hatte sie herbeigesehnt, ihr ganzes Leben schon. Zumindest so lange sie denken konnte und seit ihre Mutter die Geschichten erzählt hatte. Sie würde klingeln und alles andere würde sich schon irgendwie ergeben. Mehr als rausschmeißen kann sie mich nicht, dachte Helene. Und was,