Lutherleben. Felix Leibrock

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Lutherleben - Felix Leibrock страница 5

Lutherleben - Felix Leibrock

Скачать книгу

hatte man in ihrer Generation im Konfirmationsunterricht noch auswendig gelernt! Nachdem die Pfarrerin die kärgliche Kollekte gezählt und das Sakristeibuch ausgefüllt hatte, ging sie zur neurologischen Abteilung. Sie wollte den wunderlichen Mann sprechen. Die Flure waren in Pastelltönen gestrichen. In den Aufenthaltsräumen fand sie ihn nicht. Sie beschrieb den Schwestern den Musikanten im Bademantel. Schulterzucken, ungläubiges Staunen auf den ersten Stationen. War sie einem Phantom aufgesessen? Sie stieg die Treppen zum vierten Stockwerk hoch und traf auf Schwester Petra. Sie kannten sich vom gemeinsamen Volleyballspiel des Klinikteams. Kurz trug sie ihr Anliegen vor. Die Schwester wusste gleich Bescheid und flüsterte ihr zu: „Wundere dich nicht über das, was du jetzt gleich siehst.“ Am Ende des Stationsflures lag der Aufenthaltsraum. Den beiden Frauen schlug das Trommeln und Klingen Orffscher Musikinstrumente entgegen, ein bizarres Klanggemisch mit einer darüber schwebenden Melodie.

      „Unsere Musiktherapeutin leitet die Patienten an“, gab Petra zu verstehen und drückte sanft die Tür auf. An der Stirnseite des nüchternen Raumes stand ein Schrank offen. In seinen Regalen lagen abgenutzte Kartons mit Brett- und Kartenspielen. Auf einer Pinwand waren Ansichtskarten befestigt, die dankbare Patienten aus ihren Heimatorten gesandt hatten. Ungläubig starrte Sabine Harder auf das Szenario, das sich ihr in der Mitte des Raumes bot. Mit ausgezehrten Gesichtern saßen vier Männer auf wackligen Stühlen. Ihre Blicke waren auf die gepflegten Hände einer jungen Frau mit violettem Halstuch und kunstvoll geflochtenem Zopf gerichtet. Sie gab ihnen den Takt vor. Rhythmisch klopfte der Älteste des Quartetts auf eine Schellentrommel. Bei jedem Schlag vibrierte sein Knebelbart. Ein anderer mit Glatze und buschigen Augenbrauen schlug eine Triangel an. Der Jüngste mit zitronengelbem T-Shirt und mehreren Lippenpiercings versuchte etwas unbeholfen, mit Kastagnetten Schritt zu halten. Harders schweifender Blick blieb beim vierten Mann haften. Seine mächtige Statur, sein grauer Vollbart ließen ihr keinen Zweifel, auch wenn er jetzt den blauen Bademantel gegen ein weites Hemd aus weißer Baumwolle eingetauscht hatte. Es war der Mann, der sie am Vorabend bis in den Schlaf hinein beschäftigt hatte. Mit seinem Akkordeon gab er den drei anderen Musikanten die Melodie vor. Eine Melodie, über die sie vor einer halben Stunde gepredigt hatte: Ein feste Burg ist unser Gott. Leise drückte Schwester Petra die Tür wieder zu.

      „Wer ist der Mann im weißen Hemd?“, flüsterte die Klinikseelsorgerin, obwohl niemand zu sehen war.

      „Das ist Herr Trödler“, erklärte die Schwester, „er hatte einen Unfall mit Schädel-Hirn-Trauma. Bei uns ist er, um die posttraumatischen Störungen abzubauen. Er spielt den ganzen Tag Akkordeon. Immer dieses eine Lied. Du musst das doch kennen. Ist doch wohl ein Kirchenlied. Weißt du, wie ihn die anderen Patienten nennen?“

      Sabine Harder sah ihre Volleyballfreundin fragend an.

      „Die nennen ihn Martin Luther. Und was glaubst du, wie er reagiert?“

      Wieder spannte die Krankenschwester Sabine Harder auf die Folter.

      „Na, beim letzten Mal, als ihn einer so nannte“, erlöste Petra die Pfarrerin, „da haben einige gelacht und er ist wütend geworden. Aber nicht, weil sie ihn so nennen. Nein, im Gegenteil, er ärgerte sich, weil sie die Sache nicht ernst nahmen. Ich bin Martin Luther und weiß nicht, was es da so blöd zu lachen gibt. Ich habe ein bisschen Respekt verdient angesichts meiner Leistungen, hat er gesagt.“ Petra verkniff sich mit Mühe ein Lachen.

      Die Pfarrerin blickte auf den Park. Es war Mittagszeit. Die Patienten strömten in Richtung Speisesaal. Was war das für eine Erkrankung, an der dieser Herr Trödler litt, fragte sie sich. Vor Kurzem hatte sie in einer Zeitschrift einen Artikel über multiple Persönlichkeitsstörungen gelesen. War es das, was diesen Mann plagte? Das Entstehen einer zweiten Person im Gehirn zur Bearbeitung einer traumatischen Erfahrung? Aber dieser Herr Trödler wirkte heute gar nicht geplagt, im Gegenteil. Sein Musizieren, sein ruhiger und konzentrierter Blick strahlten eine innere Harmonie aus, so als ob da jemand mit sich im Reinen wäre. Wenn Luther die eine Persönlichkeit war, in der er sich zu Hause fühlte und mit Hilfe derer er ein Trauma abbaute, vor welcher anderen Persönlichkeit wich er aus?

      Sabine Harder sah auf die Uhr. Zu Hause wartete ihre Familie auf sie. Sie ging zu ihrem Fahrrad. Neben ihr öffnete jemand ein Fahrradschloss. Es war Gudrun Wiegand, die Musiktherapeutin. Die Übungsstunde war vorbei. Sie wechselten ein paar Sätze. Wolfgang Trödler war seit drei Tagen in der Musikgruppe.

      „Das Spiel mit dem Akkordeon hilft“, erläuterte die Therapeutin, „scheinbar abgestorbenes Gedächtnis zu reaktivieren. Ich bin zu ihm ins Zimmer gegangen und habe ihm einen Katalog mit Musikinstrumenten gezeigt. Erst beim Akkordeon hat er reagiert. Ja, das wolle er spielen. Wenige Tage später hat ihm die Lebensgefährtin sein Akkordeon gebracht. Allerdings hat die bisherige Reha-Zeit zu einem auch für mich überraschenden Ergebnis geführt.“

      Sie hatte das Schloss um die Sattelstange befestigt und schob das Fahrrad aus dem Ständer.

      „Herr Trödler erinnert sich nicht an sein bisheriges Umfeld, an seine Lebensgefährtin, an den Campingplatz, auf dem er gearbeitet hat. Alles ist noch wie weggeblasen. Dafür hat er aber erstaunliche musikhistorische Kenntnisse, obwohl er von Beruf Hausmeister auf einem Campingplatz ist. Stellen Sie sich vor, morgen will er mit den anderen Patienten ein neues Lied einüben. Das Lied, so sagte er uns, hat den Titel Es ist gewißlich an der Zeit. Er sagt, er habe die Melodie in Anlehnung an das Dies irae, dies illa aus dem 12. Jahrhundert komponiert. Ich bin schon gespannt, wie das klingen wird.“

      Dies irae? Dies illa? Eine SMS ihrer 12-jährigen Tochter Swantje fragte drängelnd, wann sie endlich nach Hause komme. Dennoch eilte sie noch einmal in die Klinikkapelle. Sie blätterte im Gesangbuch und stieß mit einem leisen Aufschrei auf das Lied mit der Nummer 149. Es ist gewißlich an der Zeit. Am Ende der Strophen las sie atemlos, wer wann die Melodie kreiert hatte: Martin Luther, 1529.

      Sie radelte nach Hause. Am nächsten Morgen musste sie das Gespräch mit Wolfgang Trödler suchen. Besser gesagt, mit Martin Luther. Jetzt huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Dass ich das noch erleben darf, zitierte sie einen Satz, den sie sonst bei Diamantenen Hochzeiten oder hohen runden Geburtstagen hörte. Doch in die fast heitere Vorfreude mischte sich ein Gefühl von Unsicherheit. Musste sie diesem Herrn Trödler nicht reinen Wein einschenken? Genaugenommen hatte sie etwas Angst vor dem Gespräch. Verletzte sie ihn nicht, wenn sie ihm die Illusion seiner scheinbaren Identität nahm? Ich werde ihm Fragen zu Luther stellen, die er nicht beantworten kann, nahm sie sich vor. Ein psychischer Zusammenbruch ist nicht auszuschließen, wenn er die Wahrheit erkennt. Ihr war jedenfalls klar, was sie ihm verweigern musste: Ihn als Martin Luther anzuerkennen und mit ihm auf dieser Ebene zu kommunizieren. Dieser Herr Trödler durfte nicht in religiöse Wahnvorstellungen abgleiten. Immerhin hatte sie eine positive Möglichkeit, ihn aufzufangen: Sie konnte ihm Wege zeigen, in der heutigen Zeit an Gott zu glauben, gerade auch mit Hilfe von Luthers Lehre. Ja, morgen werde ich dem Spuk ein Ende bereiten. Sie trat entschlossen in die Pedale.

      IV

      „Ja, dann kommen Sie mal herein.“ Sabine Harder hatte sich in der Tür kurz vorgestellt. Sie hatte eine weichere Stimme erwartet. Wolfgang Trödler sah sie emotionslos an.

      „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach aufsuche, Herr Trödler.“ Sie schloss die Tür hinter sich und näherte sich dem Krankenbett, auf dem eine rot-weiß gestreifte Überdecke lag. Auch die Vorhänge waren in kräftigen Farben. Man spürte das Bemühen, die Atmosphäre eines Krankenhauses zu vermeiden. Der Patient saß mit angewinkelten Knien auf dem Bett, dessen Rückenteil hochgestellt war. Vor sich hatte er ein Exemplar von Psychologie heute aufgeschlagen, das er jetzt auf den Nachtschrank legte. Stumm zeigte er auf einen Stuhl und blickte zum unterhalb der Decke montierten Fernsehgerät. Tonlos flimmerten Bilder von einem Wettbewerb im Springreiten.

      „Sie scheinen ja nicht einer Kirche anzugehören und haben

Скачать книгу