Wohltöter. Hansjörg Anderegg

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Wohltöter - Hansjörg Anderegg

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das Glashaus, das er sein Büro nannte und fröstelte, als er das unterkühlte Großraumbüro seiner Mitarbeiter betrat. Er hielt nicht viel von Privilegien und Rängen, aber die Tatsache, dass er als DCI ein sonniges Einzelbüro mit botanisch herausragender Kakteenzucht besaß, entschädigte für vieles. Nicht zuletzt die niemals versiegende Begeisterung seines Chefs.

      Die Mannschaft erwartete ihn im Sitzungszimmer zur Lagebesprechung. Es waren tatsächlich alles Männer, die mehr oder weniger entspannt am langen Tisch saßen. Bisher hatte es keine Frau zu ihm an die Front geschafft. Den Grund kannte er nicht, und er bedauerte es manchmal. Das andere Geschlecht schien sich mehr für die Arbeit hinter den Kulissen in den Labors zu interessieren. Er nickte den Leuten kurz zu.

      »Wo sind Miller und Cawley?«

      »Die Inspectors sind noch in Hammersmith, Sir«, antwortete Ron Cornwallis, der Jüngste und Schnellste seiner Truppe. »Befragung der Stammkunden in der ›Red Lantern‹.«

      »Wird allmählich Zeit, dass wir die Clan-Sache abschließen«, brummte Rutherford ärgerlich. »Also, wo stehen wir, Pete?«

      Sein alter Leidensgenosse bei Schotland Yard, Detective Sergeant Pete Townsend, der seit fünfzehn Jahren partout nicht Inspector werden wollte, kam nicht mehr dazu, zu antworten. Der Telefonapparat auf dem Tisch erwachte lautstark zum Leben. Der schnelle Ron hatte den Hörer in der Hand, bevor sich der DCI ärgern konnte. Er hörte kurz zu, dann reichte er den Hörer seinem Chef. »Wir haben eine Leiche, Sir.«

      Mit zusammengekniffenen Augen hörte er sich an, was die Zentrale ihm zu melden hatte. »Kent? Was geht uns das an?«, unterbrach er unwirsch. Sie hatten wahrlich genug eigene Probleme und keine Zeit und Ressourcen, die Aufgaben der lokalen Polizei auch noch zu übernehmen. Überdies begannen sich seine Männer bereits zu langweilen. Das mochte er am allerwenigsten. »Wann sagten Sie? Heute Mittag?« Es war fünf Uhr abends. Die Spur, wenn es denn eine gab, dürfte längst kalt sein. »Hören Sie, ich bin mitten in einer Besprechung. Ich rufe …«

      Der Rest blieb ihm im Halse stecken, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und Chief Whitney trat mit strahlender Miene ein. Hinter ihm tauchte ein strohblonder Haarschopf auf. Er gehörte einer jungen Frau, deren Ausstrahlung den kühlen Raum erwärmte wie ein laues Frühlingslüftchen. Wären plötzlich Maiglöckchen aus seinem Hörer gewachsen, der DCI hätte sich überhaupt nicht gewundert. Seine Männer saßen kerzengerade am Tisch wie brave Primaner, bereit aufzuspringen und die Lady im Chor zu begrüßen, so schien es. Dabei war die unerwartete Erscheinung eher klein. Sie trug weder extravagante Kleider noch schwindelerregende Schuhe. Jeans, weißes T-Shirt, hellbraune Lederjacke, bequeme Schnürschuhe, das war’s. Ihr Gesicht aber mit den blau schimmernden, neugierigen Augen, der angedeuteten Stupsnase, den weichen Lippen und der dicke, goldene Zopf zogen sofort alle Blicke magisch auf sich. Auch Rutherford vermochte sich dem Bann nicht sogleich zu entziehen. Ganz sanft legte er den Hörer auf die Gabel zurück, als dürfte kein Geräusch die Weihe des Augenblicks stören.

      »Meine Herren«, begann der Chief freudig, »ich möchte Ihnen Detective Sergeant Hegel vorstellen.« Er trat etwas zur Seite, um seine Begleiterin ins rechte Licht zu rücken. »Dr. Hegel ist Deutsche. Sie arbeitet beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden und wird uns ein Jahr lang im Rahmen des internationalen Austauschprogramms ihr Wissen und ihre Erfahrung zur Verfügung stellen.«

      Die Erinnerung traf Rutherford wie ein Schlag. Längst hatte er die unangenehme Unterhaltung mit dem Chief verdrängt. Schon damals lag die Betonung auf international, als würde die Schnapsidee die Bedeutung Scotland Yards und insbesondere des Chiefs enorm steigern. So sah also das internationale Austauschprogramm aus. Na ja, angenehm anzusehen war es. Trotzdem hätte er liebend gern auf die Bereicherung verzichtet. Der eigene Nachwuchs wie der schnelle Ron machte schon genug Arbeit. Verstand das Programm überhaupt ihre Sprache?

      »Guten Abend meine Herren«, sagte das Programm in tadellosem Oxford-Englisch. »Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und bin sicher, eine Menge von Ihnen lernen zu können.«

      Der Chief strahlte noch intensiver, als er sah, wie sich die Männer reihum erhoben, um ihrer neuen Kollegin die Hand zu geben. »Ich sehe, Sie sind in guten Händen«, schmunzelte er mit einem Seitenblick auf seinen DCI. Der studierte seine Uhr. Ein Wink, den auch der Chief verstand. »Lassen Sie sich nicht aufhalten«, meinte er beim Hinausgehen.

      Ron, ganz Gentleman, bot Sergeant Hegel seinen Stuhl an. Im Nu zauberte er einen Neuen herbei und schaffte es irgendwie, sich neben das blonde Programm zu setzen.

      Rutherford beobachtete die Szene mit zunehmendem Unbehagen. Es geht schon los, dachte er angewidert. Der Chief würde seine internationalen Ambitionen noch bitter bereuen. »Kann ich weitermachen?«, fragte er provozierend. Noch vor ein paar Minuten gab es nur den üblichen Ermittlungskram und eine verschwundene Leiche in Kent, aber jetzt … Es gab Tage, die man besser aus dem Kalender streichen sollte. Er war, verdammt noch mal, kein Psychiater. Beziehungskisten waren das Letzte, was er sich in seiner Abteilung wünschte. Die Deutsche schaute ihn mit ihren großen Augen erwartungsvoll an, während die Männer zur Sicherheit mit gesenktem Blick Coolness demonstrierten. Die Ankunft der Frau hatte die Atmosphäre aufgeladen, dass man es knistern hörte. Es gab nur eine Lösung. Er musste die Besprechung so rasch als möglich beenden. Die Neue brauchte Arbeit, draußen, wo sich das richtige Leben abspielte. Er brach die Sitzung ab und beorderte Sergeant Hegel in sein Terrarium.

      »Mein Gott, ein blühender Ariocarpus«, rief die Frau überrascht, als sie sein Büro betrat.

      »Sie kennen sich aus?«, fragte er misstrauisch.

      »Nicht wirklich, aber an diese Art erinnere ich mich. Eine Kollegin in Oxford hatte so ein Prachtstück mit der weißen Wolle auf dem Scheitel. Nur blühen wollte er nie. Wunderschön.«

      Falls sie sich einschleimen wollte, war sie bei ihm an der falschen Adresse. »Finden Sie?«, brummte er mürrisch. »Sie waren in Oxford?«

      »Ja, auch ein Jahr. Post graduate Studium analytischer Methoden.« Sie beugte sich vor, deutete auf ein Dossier, das wie durch ein Wunder zuoberst auf seinem Schreibtisch lag. »Steht alles in meinen Unterlagen.«

      Die Lady konnte auch ziemlich direkt sein. Er war sicher, das Dossier ›Internationales Austauschprogramm‹ zuunterst in der Schublade versteckt zu haben. Gedankennotiz: Sekretärin befragen.

      »Setzten Sie sich bitte«, forderte er Sergeant Hegel auf, während er ihr Dossier aufschlug. »Sie haben Geologie und Chemie studiert, sehe ich.«

      »Ja, abgeschlossen in Geologie.«

      Es hatte keinen Zweck, weiter Theater zu spielen. Sie musste längst gemerkt haben, dass er ihre Unterlagen noch nie angesehen hatte. Er klappte das Dossier zu, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und sagte: »Nun erzählen Sie mal. Was führt Sie zur Polizei.«

      »Der Zufall«, gab sie unumwunden zu.

      Die Offenheit und Selbstsicherheit, mit der sie diese Antwort gab, beeindruckte ihn. Wider Willen deuteten seine Lippen ein Schmunzeln an.

      Sie fuhr lächelnd weiter: »Es geschah im letzten Jahr vor dem Master. Ich beschäftigte mich mit neuen Methoden der Bodenanalyse. Dabei stieß ich auf ein Verfahren, mit dem sich auch kleinste Proben mit hoher Sicherheit einer bestimmten Fundstelle zuordnen lassen. Röntgenfluoreszenzanalyse.«

      »Sparen Sie sich die wissenschaftlichen Erklärungen«, unterbrach er entsetzt. »Ich verstehe sowieso nichts.«

      »Verzeihung. Kurz gesagt erlaubt die Methode, nachzuweisen, wo sich eine Person oder ein Fahrzeug aufgehalten hat, auch wenn sonst keine Spuren vorliegen.

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