Wohltöter. Hansjörg Anderegg
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Читать онлайн книгу Wohltöter - Hansjörg Anderegg страница 4
»Mit Ihren Qualifikationen müssten Sie bei der Spurensicherung arbeiten.«
»Habe ich. Tue ich immer noch zeitweise. Ich bin ausgebildete Kriminaltechnikerin, arbeite aber gerne an der Front. Oft ist der allererste Eindruck eines Tatorts der wichtigste. Ein entsprechend geschultes Auge kann nicht schaden.«
Er schaute sie nachdenklich an. Diesen Augen traute er tatsächlich zu, mehr zu sehen als andere. Und er hatte genau den passenden Job für sie. »Augenblick«, murmelte er, ging zur Tür und winkte Ron herein.
Der Junge kam wie der Blitz. »Sir?«
»Detective Cornwallis, ich möchte, dass Sie sich zusammen mit Sergeant Hegel der Sache in Kent annehmen. Rufen Sie Inspector Fry in Canterbury an. Sehen Sie sich die Stelle genau an, wo diese Leiche verschwunden sein soll.« Er wandte sich wieder an die Neue und betonte: »Aber treiben Sie keinen unnötigen Aufwand.«
»Verstanden, Sir«, versicherte Ron zackig.
Er hielt seiner Kollegin die Tür auf. Die beiden zogen sich an Rons Schreibtisch zurück, und Rutherford atmete auf. Zwei Fliegen auf einen Streich, dachte er zufrieden. Wenigstens für ein paar Stunden war er den lästigen Fall in Canterbury los und er musste sich heute nicht mehr um den deutschen Nachwuchs kümmern.
Canterbury, Kent
Sergeant Hegel lächelte still in sich hinein. Der erste Kontakt mit ihrem neuen Boss war glimpflicher abgelaufen, als sie befürchtet hatte. Der DCI schien ein ehrlicher Typ zu sein. Jedenfalls hatte er ihr keine Komödie vorgespielt. Sie fühlte sich wohler in seiner Gegenwart als während der Gespräche mit Chief Superintendent Whitney.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Sergeant?«, fragte Ron besorgt.
Sie schüttelte den Kopf. »Was soll sein?«
»Sie haben mich so komisch angesehen.«
Sie schmunzelte. »Komisch nennen Sie das. Eher verwundert, würde ich sagen. Verwundert über Ihre Hartnäckigkeit.«
Er saß am Steuer des Dienstwagens. Der Feierabendverkehr erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Trotzdem warf er ihr einen verblüfften Blick zu, sagte aber nichts.
»Hartnäckig, wie Sie am Sergeant festhalten, meine ich.«
»Soll ich Sie lieber mit DS ansprechen?«
Der gute Ron meinte es ernst. Von ihren deutschen Kollegen war sie einiges gewohnt bezüglich Titelsucht, aber die Angelsachsen trieben es auf die Spitze. Fast jeder Satz begann oder endete mit Sergeant, Detective Inspector, Chief Inspector. Sie war und blieb hier offenbar der Detective Sergeant. Den temporären Rang hatte sie der Tatsache zu verdanken, dass sie zu Hause beim BKA als Kommissarin arbeitete.
»Nennen Sie mich doch einfach Chris wie alle meine Bekannten, O. K.?«
Der Vorschlag gab dem jungen Detective zu denken. Sie fühlte förmlich, wie seine Neuronen feuerten. Erst nach einer Schrecksekunde antwortete er unsicher: »Wie Sie wünschen, Sergeant.«
»Chris«, korrigierte sie lachend. »Steht für Christiane. Kann sich kein Mensch merken. Also, Ron, wo sind wir eigentlich?«
»Fünf Minuten bis zum Revier schätze ich.«
Sie mussten sich beeilen, wollten sie heute noch etwas sehen.
Es war bereits halb acht, als sie in Begleitung eines nervösen Constable Sellick bei den Reculver Towers eintrafen. In einer guten Stunde würde die Sonne untergehen. Ein Glück, dass das trockene Frühlingswetter anhielt, dachte sie. Bis sie näher an die Absperrung trat. »Oh mein Gott«, murmelte sie erschrocken. »Woher stammen all diese Fußspuren?«
Sellick wollte antworten, kämpfte aber gegen einen plötzlichen Hustenanfall.
Ron schüttelte verächtlich den Kopf. »Wann haben Sie denn abgesperrt? Nachdem es alle gesehen hatten?«, fragte er giftig.
Sie versuchte zu beschwichtigen. »War wohl nicht einfach, die Meute zurückzuhalten«, meinte sie.
Hier am Ufer brauchten sie nicht nach Spuren Unbekannter zu suchen. Die Tritte der Dorfbewohner hatten alles gründlich zertrampelt. Sie sah, wie Ron zu einer weiteren Bemerkung ansetzte, und sagte schnell:
»Zeigen Sie uns bitte die Stelle, Constable.«
Auf einem Felsblock am Ende des Damms blieb sie stehen. Sie ließ den Blick langsam über die vermeintliche Fundstelle schweifen, prägte sich fast unbewusst Eigenart und Einzelheiten der Umgebung ein, bis sie das Gefühl hatte, die Gegend seit Langem zu kennen. Sie stellte sich den toten Körper im Wasser vor. Gestrandet, den Arm eingeklemmt in der Felsspalte. Die Steine wiesen keine sichtbaren Spuren eines Verbrechens auf. Sie mussten natürlich noch mit ihren Instrumenten nach Blutspuren suchen, aber sie glaubte nicht daran, welche zu finden. Die Beobachtung deckte sich mit den Aussagen der Zeugen. Der Körper schien unversehrt gewesen zu sein.
»Der Fundort ist wohl nicht der Tatort«, sagte sie zu Ron.
»Wenn es denn ein Fundort ist.«
Constable Sellick lief rot an. »Die Zeugen sind absolut zuverlässig. Hätten wir Sie sonst alarmiert?«, brummte er ärgerlich.
»Ron, holen Sie doch bitte das Luminol und die UV-Lampe und etwas zum Abdecken aus dem Wagen.« Der Mann musste beschäftigt werden. Zu Sellick bemerkte sie leise: »Nehmen Sie es nicht persönlich. So ist er immer.« Sie glaubte das selbst nicht, aber es half, die Wogen zu glätten.
Sie kehrte zu ihrem Gedankengang zurück. War der Mann selbst ins Wasser gesprungen und ertrunken? Suizid? Alles sprach dagegen. Man hatte nirgends Kleider gefunden. Und warum sollte sich jemand die Mühe machen, sich auszuziehen, bevor er sich umbringt? Hatte jemand den Toten hineingeworfen? Unwahrscheinlich. Erstens hätte der Täter die denkbar dümmste Zeit dafür ausgewählt, während das Wasser anstieg. Die Flut hätte den Toten gleich wieder an Land gespült. Jeder halbwegs vernünftige Verbrecher hätte den Leichnam bei abnehmender Tide entsorgt. Zweitens hätte ein Täter nicht ausgerechnet den populären Platz bei den Towers ausgesucht. Die letzte Variante schien ihr am wahrscheinlichsten. Die Meeresströmung hatte den toten Körper angeschwemmt. Das passte zu den Gezeiten und Zeugenaussagen.
Ron brachte die Lampe, eine Spezialanfertigung, die ohne Generator wie eine starke Taschenlampe funktionierte. Sie bat die beiden Männer, die Schutzfolie über ihr auszubreiten, um sie vom Licht der untergehenden Sonne abzuschirmen. Langsam bewegte sie den unsichtbaren Kegel des ultravioletten Lichts über die Steine. Hin und wieder leuchteten ein paar Punkte auf. Mikroorganismen, keine Blutspritzer. Nach einer Weile richtete sie sich auf. »Nichts, keine Blutspuren und keine Abschürfungen. Hier ist kein Gewaltverbrechen geschehen.«
»Sag ich doch«, grinste Ron.
»Bleibt die Frage: Wie ist der Tote wieder verschwunden?«
»Sie glauben immer noch an die Leiche, Sergeant?«
»Nichts zu finden heißt ja nicht, dass nichts da war, Detective«, gab sie gereizt zurück.
Ron übertrieb seine Skepsis, fand sie. Vielleicht die Schule des DCI? Es gab immerhin Zeugenaussagen. Die durften sie nicht einfach ignorieren. Hatten Wellen und Strömung die Leiche wieder auf die offene See getrieben? Auch das war unwahrscheinlich, wenn sie