Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg

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besorgt an.

      »Alles in Ordnung?«

      Sie reagierte nicht auf die Frage, die ihre grauen Zellen nur als dumpfes Rauschen erreichte. Es dauerte seine Zeit, bis das Adrenalin nicht mehr kochte in ihren Adern. Allmählich beruhigte sich ihr Puls. Der Gedanke an Sven jedoch sandte einen lähmenden Schock durch ihren Körper. Die Knie gaben nach. Sie musste sich hinsetzen.

      »Sven – ist er …?«, stammelte sie tonlos.

      Sie brachte die Frage nicht über die Lippen. Der SEK-Mann nahm den Helm ab und streifte endlich die Maske vom Gesicht. Mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn schüttelte er den Kopf und sagte:

      »Ihr Partner lebt. Ein glatter Kopfdurchschuss. Es ist ein Wunder, aber sein Zustand ist äußerst kritisch. Er muss sofort in den OP.«

      Nur Minuten später lag sie selbst nach einer Beruhigungsspritze auf der Trage im Rettungswagen. Sie zählte ängstlich die Sekunden, bis sie hörte, wie der Hubschrauber mit ihrem Partner und seinem potentiellen Mörder abhob. Was für ein elender Scheißtag!, dachte sie, bevor ihr die Augen zufielen.

      Sie erwachte kurz nach Mitternacht. Trotz des langen, traumlosen Schlafs fühlte sie sich müde und ausgelaugt. Wenigstens brannte die Hüfte nicht mehr. Sie tastete vorsichtig nach der Stelle, wo sie der Streifschuss verletzt hatte, und riss dabei um ein Haar den Beutel mit der Infusionslösung vom Haken. Die Hüfte schmerzte nur, wenn sie auf den Knochen drückte.

      »Warum versenken die mich im Krankenhaus?«, murrte sie.

      Sie schwang die Beine aus dem Bett, blieb einen Augenblick benommen stehen im lächerlichen Krankenhemd. Den Sinn dieses Tuchs hatte sie nie verstanden. Ein Stofffetzen, der den Allerwertesten der öffentlichen Gaudi preisgab, die Vorderseite aber keusch verhüllte, albern.

      »Sven!«, schoss ihr unvermittelt durch den Kopf.

      Sie drückte hastig auf den Alarmknopf und ließ ihn erst los, als die Nachtschwester ins Zimmer trat.

      »Legen Sie sich bitte wieder hin, Dr. Hegel«, war das Erste, was sie sagte.

      Sie schlug die Bettdecke einladend zurück und wartete mit der Miene eines Blockwarts.

      »Blödsinn, ich bin nicht krank«, murrte Chris. »Ich muss zu meinem Partner, Sven Hoffmann, wo liegt er?«

      »Sie müssen sich schonen. Sie können jetzt nicht …«

      Weiter gedieh der Protest der Schwester nicht. Mit offenem Mund sah sie zu, wie Chris das Heftpflaster vom Arm entfernte, die Infusionsnadel herauszog, zum Schrank ging und sich anzuziehen begann. Erst als sie nochmals nach Sven fragte, löste sich die Starre der Schwester.

      »Ich rufe den Arzt. Warten Sie hier«, ordnete sie an.

      »Gute Idee«, murmelte Chris und folgte ihr.

      Das Gespräch mit dem Arzt war kurz.

      »Kriminalkommissarin, aha«, murmelte er.

      Es hörte sich an wie: »Alles klar …« Er reichte ihr ein Formular.

      »Unterschreiben Sie bitte hier.«

      Kommentarlos legte er das unterschriebene Blatt, das die gesamte medizinische Gilde Deutschlands und insbesondere dieses Krankenhaus von jeder Verantwortung entband, zu ihrer Akte.

      »Die Schwester zeigt Ihnen den Weg zur Intensivstation, wo ihr Bekannter liegt.«

      »Partner«, korrigierte sie.

      Er nickte freundlich. »Partner. Gute Nacht.«

      Die Ärztin auf der Intensivstation war jung, ihr emotionaler Panzer noch wenig ausgeprägt. Sie zeigte Mitgefühl, und Chris dankte ihr insgeheim dafür.

      »Wir haben Herrn Hoffmann ins künstliche Koma versetzt. So braucht das Hirn weniger Sauerstoff und die Körperfunktionen können sich stabilisieren«, erklärte sie beinahe flüsternd, als fürchtete sie, den Patienten zu wecken.

      Chris hörte nur mit halbem Ohr zu. Svens wächsernes Gesicht war kaum zu erkennen unter dem dicken Kopfverband, der Atemmaske, den Schläuchen und Messsonden. Die leise summenden, blinkenden und keuchenden Maschinen schienen das einzig Lebendige zu sein in dieser düsteren Kammer. Sie berührte sachte seine Hand.

      »Es ist meine Schuld, Sven«, murmelte sie mit bebender Stimme. »Ich müsste jetzt da liegen oder im Sarg, nicht du.«

      Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und wandte sich ab. Die Ärztin kontrollierte schweigend die Messprotokolle, dann folgte sie ihr auf den Flur. Im Bereitschaftsraum fasste Chris endlich den Mut, die alles entscheidende Frage zu stellen:

      »Wie sieht die Prognose aus?«

      »Es wird lange dauern«, antwortete die Ärztin zögernd, »aber wir sind zuversichtlich.«

      Das konnte alles oder nichts bedeuten, doch Chris mochte nicht argumentieren. Stattdessen fragte sie:

      »Hassan Moussouni, liegt er auch hier?«

      Die Ärztin nickte. »Gleich nebenan. Wir mussten auch ihn ins Koma versetzen nach dem massiven Blutverlust. Milz und Leber sind schwer verletzt.«

      »Kommt er durch?«

      »Wenn es keine Komplikationen gibt.«

      Es war die erste halbwegs gute Nachricht nach dem Desaster des Vortags. Gut für ihren eigenen Seelenfrieden und gut für das Justizsystem. Sie dankte der Ärztin und verabschiedete sich. Es gab viel zu tun.

      Im achten Stockwerk des Plattenbaus zerschnitt sie das Siegel an Hassan Moussounis Wohnung und trat ein. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit getan. Trotzdem wollte sie sich noch einmal gründlich umsehen. Zumindest redete sie sich das ein. Sie kannte natürlich den wahren Grund: Sie wollte allein sein, mochte mit niemandem reden. So stürzte sie sich in die Arbeit, als wäre sie die Erste am Tatort, versuchte, sich in die Gedanken der Bewohner zu versetzen, sich das fremdartige, offensichtlich nur auf Zeit angelegte Leben zwischen den kahlen Wänden vorzustellen. Immer wieder drängte sich ein hartnäckiger Vorwurf in den Vordergrund. Sie hätten die Fluchtmöglichkeit über die Balkons in der Einsatzplanung berücksichtigen müssen, so unwahrscheinlich sie auch schien. Sie waren gewarnt. Im Schreiben des Bundesnachrichtendienstes hieß es sinngemäß:

       Der gesuchte Hassan Moussouni wird verdächtigt, als Anführer einer Terrorzelle der AQIM (al-Qaida des Islamischen Maghreb) Anschläge in Marseille zu planen. Der Verdächtige ist bekannt als rücksichtsloser, harter Elitekämpfer. Er ist Spezialist für Sprengstoffeinsätze. Man muss davon ausgehen, dass er eine Schusswaffe trägt, die er ohne Zögern einsetzt.

      Da stand es, schwarz auf weiß, so wie es der BND von den Terrorspezialisten des französischen Auslandsgeheimdienstes, DGSE, erfahren hatte. Trotzdem hatten sie Moussouni unterschätzt, sich zu sehr auf den möglichen Sprengstoffeinsatz konzentriert. Solche Fehler durften ihr nicht mehr unterlaufen. Sie arbeitete schon zu lang an der Front beim BKA. Zu lang für eine glaubwürdige Entschuldigung. O. K., Moussouni konnte keinen Schaden mehr anrichten. Aussagen würde er allerdings auch nicht auf absehbare Zeit. Justitia musste warten. Nun rang ihr Partner mit dem Tod als Folge ihres Versagens. Das war das Schlimmste, der größte anzunehmende Unfall.

      Aufgewühlt

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