Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg

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hat uns das Gerät übergeben. Die Netzspezialisten sind noch an der Arbeit. Bis jetzt steht fest, dass die Benutzer sich praktisch ausschließlich für die Pläne des Hamburger Hafens und dort ansässige Reedereien und Werften interessiert haben. Hinweise auf konkrete Kontakte gibt es bisher allerdings nicht.«

      »Na, das ist doch schon etwas«, freute sich Richter.

      Er sandte einen fragenden Blick Richtung Hansen.

      »Wir übernehmen das«, antwortete der Kommissar aus Hamburg, und alle verstanden, was er meinte.

      Solang die digitale Spur nicht mehr hergab, hieß es Klinken putzen: mühsame und aufwendige Befragung aller denkbaren Kontakte rund um den riesigen Hamburger Hafen. Sie hielt es nicht für wahrscheinlich, dass sich der Gesuchte noch in der Hansestadt aufhielt, aber die Arbeit musste getan werden. Die Spur, die sie zur Wohnung im Plattenbau geführt hatte, endete dort. Hassan Moussouni konnte Gott weiß wo seine dunklen Geschäfte weiterverfolgen. Und Sven lag im Sterben.

      Bei der Rückkehr ins Büro tippte Caro ihr an die Schulter. Die Freundin blickte sie besorgt an. Sie öffnete den Mund, doch Chris kam ihr zuvor:

      »Nicht du auch noch!«, stöhnte sie in Erwartung der Standardfrage.

      »Du siehst Scheiße aus, wollte ich eigentlich sagen.«

      »Nett von dir. Vielen Dank, das hilft.«

      Am Eingang zum Büro zögerte Chris. Nur widerwillig betrat sie den Raum mit Svens leerem Pult. Das Büro kam ihr steril vor. Es roch nach Desinfektionsmittel und Plastikschläuchen. Caro bemerkte ihr Zögern.

      »Du solltest nicht hier sein. Geh nach Hause, nimm ein heißes Bad und hau dich aufs Ohr.«

      Kloppenheim bei Wiesbaden

      Caros Rat war gut gemeint. Schlaf wäre sicher nicht verkehrt in ihrer depressiven Stimmung. Sie hatte es versucht. Stundenlang lag sie mit offenen Augen im Bett in der Dachwohnung des ehemaligen Heuschobers am Kloppenheimer Feld. Milde Nachtluft wehte den Duft frisch geschnittenen Grases durchs offene Fenster herein. In der Ferne rief hin und wieder ein Kauz. Ein Fuchs markierte sein Revier mit kurzem Gebell. Die Voraussetzungen für gesunden Schlaf waren ideal auf dem luxuriösen Dachboden in Caros Haus. Aber ihre kranke Seele fand keinen gesunden Schlaf. Sie versuchte es mit Musik, die ihr stets in traurigen Momenten geholfen hatte. Sie nahm ihr Saxophon aus der Hülle, setzte das Mundstück auf und legte das Instrument lustlos wieder weg, ohne einen Ton zu spielen. Um Mitternacht rief sie das Krankenhaus in Hamburg an und ließ sich mit der Intensivstation verbinden.

      »Sie wünschen?«, murmelte die Stimme eines Arztes, die sich so müde anhörte wie die ihre.

      »Wie geht es dem Patienten Sven Hoffmann? Hat sich sein Zustand verändert?«

      »Sind Sie verwandt mit dem Patienten?«

      »Nein, ich …«

      »Tut mir leid, dann darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«

      »Hören Sie, Doktor – ich mag mich nicht mit Ihnen streiten. Ich bin Oberkommissarin Hegel vom BKA. Ich war dabei, als er angeschossen wurde, und muss wissen, wie es meinem Partner geht. Haben Sie ein Problem damit?«

      »Ich habe kein Problem, aber es gibt Vorschriften.«

      Nach einer kurzen Pause gab er nach:

      »Der Zustand des Patienten Hoffmann ist unverändert kritisch. Er hat Glück gehabt, dass der Schuss das Gehirn nur gestreift hat.«

      »Das nennen Sie Glück?«, rief sie erregt aus. »Was ist, wenn sein Hirn nicht mehr funktioniert, falls er je wieder aufwacht, als Gemüse?«

      »Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Gute Nacht.«

      Dieser Anruf verschlimmerte ihren Geisteszustand noch weiter. Sie spielte mit dem Gedanken, ihren Freund Jamie anzurufen, der nichts von den Ereignissen der letzten zwei Tage ahnte. Der Arzt Dr. Jamie Roberts war seit Jahren ihr Geliebter, eine Art Ehemann auf Distanz. Er lebte und arbeitete als Mediziner am Imperial College in London. Normalerweise schätzte sie die Vorteile der Fernbeziehung, aber in dieser Nacht … Ein Finger schwebte kurz über Jamies Namen auf dem Touchscreen des Smartphones, bevor sie es ausschaltete. Lustlos goss sie sich ein Glas Rotwein ein, vom gehaltvollen, schweren Burgunder, Nuits-Saint-Georges, nicht den wässrigen badischen Landwein, den man trinkt, um den Durst zu löschen. Der fruchtige Körper des Weins widerte sie an, aber sie leerte das Glas in wenigen Zügen und goss sich ein Zweites ein. Die Flasche fast leer, der Kopf ein Karussell, fiel sie erschöpft ins zerwühlte Bett zurück.

      Auch solche Medizin half nicht in dieser Nacht. Der Alkohol verstärkte ihre schlimmsten Albträume. In einem lichten Augenblick fiel ihr auf, dass sich die Bettwäsche kaum mehr von den stinkenden Schlafsäcken im Plattenbau unterschied. Die Erkenntnis blieb allerdings ohne Konsequenzen. Sie verfiel in einen Dämmerzustand, schloss endlich die Augen.

      Ein anhaltender Pfeifton wie der Alarm auf der Intensivstation nach dem Aussetzen des Herzschlags schreckte sie auf. Vergeblich versuchte sie, die Augen auf das Fenster zu fokussieren, wo das Geräusch herkam. Immerhin glaubte sie, einen winzigen Vogel wegfliegen zu sehen.

      »Angeber«, lallte sie ihm nach.

      Ihre Hüfte begann wieder zu schmerzen. Sie versuchte eine Weile, sich wenigstens darauf zu konzentrieren, bis sie entnervt aufgab.

      »Jetzt reicht‘s!«, herrschte sie das Saxophon an, das apathisch im offenen Instrumentenkoffer lag.

      Sie schleppte sich hinkend zum Fenster, schlug es zu und ließ den Rollladen herunter. In einer Schublade des Nachttischs fand sie das Röhrchen mit Schlaftabletten, an das sie sich schwach erinnerte. Die Aufschrift konnte sie nicht entziffern. Vielleicht waren es die vergammelten Kopfschmerztabletten. Egal. Sie kippte den Inhalt ins leere Wasserglas neben dem Bett, goss den Rest des Nuits-Saint-Georges dazu und schüttete den Drogencocktail in sich hinein. Auf dem Rücken liegend, nackt, wie sie auf diesem traurigen Planeten angekommen war, wartete sie auf die Wirkung. Für ein paar Augenblicke fühlte sie sich leichter. Dann begann die ganze Flasche Wein in ihren Kopf zu fließen. Die Hirnmasse löste sich im Alkohol auf und der Magen begann zu pochen wie ein zweites Herz. Sie rollte aus dem Bett, kroch auf allen Vieren Richtung Bad, dann knipste jemand das Licht aus.

      Richters Anruf erreichte Caro am Computer im Labor der Kriminaltechnik. Seine Stimme klang besorgt, was bei ihm im Verkehr mit seinem Fußvolk eher selten vorkam.

      »Ich suche Kommissarin Hegel. Im Büro ist sie nicht erschienen. Am Telefon erreiche ich sie nicht. Wissen Sie vielleicht, wo sie sich verkrochen hat?«

      Caro erschrak. »Ich – weiß nicht. Sie ist gestern früh nach Hause gefahren. Es ging ihr nicht gut …«

      »Das habe ich gemerkt. Deshalb mache ich mir jetzt Sorgen, verstehen Sie?«

      Da gab es nicht viel zu verstehen.

      »Sie wohnt doch in Ihrem Haus?«

      »Allerdings. Wahrscheinlich ist sie noch dort, hat nur verschlafen. Ich suche sie.«

      »Tun Sie das, und verlieren Sie keine Zeit.«

      Die Tür der Dachwohnung war nicht verschlossen. Mit flauem Gefühl im Magen trat sie ein, nachdem niemand auf ihr Klopfen geantwortet hatte. Ihre Dogge Nero stieß

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