Vollzug. Hansjörg Anderegg
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Vollzug - Hansjörg Anderegg страница 7
Im Morgengrauen des 8. Juni brannte die Imam Ali Moschee an der Außenalster, Hauptgebäude des Islamischen Zentrums Hamburg und eine der ältesten Moscheen Deutschlands. Brandbeschleuniger und Brandsätze im Gebetsraum sorgten dafür, dass in kurzer Zeit alles ein Raub der Flammen wurde, was nicht aus Stein oder Beton bestand. Der Gebetsteppich, mit seinen sechzehn Metern Durchmesser einer der größten handgeknüpften Rundteppiche der Welt, war zu Asche zerfallen, als die Feuerwehr eintraf. Nur ein Zufall rettete Ajatollah Rahimi das Leben. Er durfte den sechs Uhr Flug nach München nicht verpassen und verrichtete deshalb sein Fadschr, das Gebet vor Sonnenaufgang, eine halbe Stunde früher als üblich an diesem Morgen.
»Jetzt hamer den Scheiß Kriech!«, kommentierte Hauptkommissar Hansens türkischstämmiger Kollege in akzentfreiem Hamburger Deutsch an jenem Freitagmorgen in der Kantine des LKA. »Krieg« war kaum übertrieben, wie sich am folgenden Sonntagmorgen herausstellte. Der Anruf aus dem Präsidium erlöste Hansen um fünf Uhr früh aus einem unangenehmen Traum. Er hörte stumm zu, während er versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben.
»Bin schon unterwegs«, brummte er schließlich.
Seine Frau ließ er weiterschlafen. Sie befand sich an einem besseren Ort, mit Watte in den Ohren und einem Lächeln im Gesicht. Überdies wollte er sie nicht damit erschrecken, beim Frühstück anwesend zu sein.
»Wie viele?«, fragte er beim Betreten des Büros.
»Schon über fünftausend«, erwiderte sein Türke mit finsterer Miene. »Die Kollegen von der Bereitschaft haben die muslimische Minderheit in unserm Land wohl gründlich unterschätzt. Aber die Reiterstaffel und Wasserwerfer stehen bereit.«
»Die Bereitschaft braucht mehr von deiner Sorte«, murmelte Hansen und verzog das Gesicht.
Der Kaffee schmeckte bitter und sauer. Die Hoffnung, schnell wieder nach Hause zurückzukehren an diesem schönen Sonntag, zerschlug sich schnell. Die in letzter Minute bewilligte ›Demonstration friedliebender Muslime‹, zu der das islamische Zentrum aufgerufen hatte, lockte weit mehr Anhänger in die Hansestadt als befürchtet. Der Zustrom aus dem Bundesland und angrenzenden Gebieten wollte nicht abreißen. Muslime aller Glaubensrichtungen, darunter viele Familien mit Kindern, marschierten auf das Zentrum zu, um ihre Solidarität und Betroffenheit friedlich zu demonstrieren. Gegen zehn Uhr schätzte man die Masse auf zehntausend Leute. Der Aufmarsch überforderte die Dienststellen heillos, die eigentlich für die Sicherheit der Demonstranten und der Stadt sorgen sollten. Deshalb waren alle verfügbaren Kräfte im Einsatz, inklusive aller erreichbaren Kommissare des LKA.
»Falls wirklich die Neonazis hinter der Brandstiftung stecken, sind sie noch dümmer, als ich angenommen habe«, sagte sein Kollege kopfschüttelnd. »Der Algerier Moussouni als Sunnit ist ein Todfeind der iranischen Schia. Er wird sich ins Fäustchen lachen, wenn eine schiitische Moschee brennt.«
»Ganz abgesehen davon, dass ihm nichts Besseres passieren kann als ein Polizeiapparat, dem keine Zeit mehr bleibt, nach ihm zu fahnden«, ergänzte Hansen.
Wie recht er damit hatte, zeigte sich gegen Mittag. Zur selben Zeit, als Ajatollah Rahimi vor der Ruine zur Rede ansetzte, detonierten gegenüber im Alsterpark Knallkörper, die zwar keinen Schaden anrichteten, aber eine Massenpanik auslösten. Eine Horde Kahlköpfe, mit Baseballschlägern, Schlagstöcken und Messern bewaffnet, hatte sie geworfen, bevor sie begannen, auf die flüchtenden Demonstranten einzuprügeln. Rettungskräfte verloren wertvolle Zeit, bis sie zu den Verletzten vordringen konnten. Hansens Uhr zeigte Punkt 12:15 Uhr, als das erste Todesopfer über Polizeifunk gemeldet wurde. Gleichzeitig schrillten die Telefone in der Mordkommission.
»Eine Gruppe Verdächtiger zieht Richtung Eppendorf. Gehen wir«, sagte er nach kurzem Gespräch.
Als Letzte verließen er und sein Partner das Büro.
»Wo bleibt eigentlich die Verstärkung aus Mecklenburg und Bremen?«, fragte der Kollege, während er den Zündschlüssel suchte.
»Vergiss die Verstärkung. Bremen hat das gleiche Problem. Lübeck und Rostock stehen Gewehr bei Fuß.«
»Ick sach‘s ja, Kriech!«
Er legte die Stirn in Falten und fuhr ab.
Rostock
Jonas Ullrich wartete, bis die Wohnungstür ins Schloss fiel, bevor er sich der Treppe zuwandte. Bedrückt und enttäuscht stieg er langsam hinab, ohne auf den Lärm zu achten, der von der Straße ins Haus drang.
»Kennen wir uns?«, hatte der alte Mann mit dem Ulbricht-Bärtchen zum Abschied gefragt.
Ullrich wollte es erst nicht wahrhaben. Eine geschlagene Stunde lang erzählte er seinem ehemaligen Professor für Chemie und verehrten Mentor vom wissenschaftlich-technischen Wunderwerk, das er bei der ›TransX‹ in Lubmin, im nordöstlichen Zipfel Mecklenburg-Vorpommerns, geschaffen hatte. Er redete und redete begeistert auf den alten Mann ein, ohne zu erkennen, dass er ihm nur freundlich zuhörte, aber kein Wort verstand. Sein Mentor war dement. Der scharfe Verstand hatte sich endgültig schlafen gelegt. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war es das erste Mal, dass Ullrich hautnah mit dieser Geißel der Menschheit in Berührung kam. Seine Eltern waren früh verstorben, lang bevor der Zerfall des Gehirns einsetzte, ebenso wie seine über alles geliebte Johanna. Die Begeisterung war verflogen. Das gleißende Licht der Junisonne auf dem gewachsten Parkett des Treppenhauses wollte nicht mehr zu diesem traurigen Sonntag passen.
Immerhin konnte er nun seinen Chef beruhigen. Der geniale Physiker und Gründer der ›TransX‹, Professor Volkmann, lebte in ständiger Angst vor Industriespionen, wahrscheinlich ein Erbe der DDR-Vergangenheit. Ullrich musste mit seinem Blut unterschreiben, bevor er seinen Mentor zur Betriebsfeier einladen durfte. Der alte Mann würde nicht erscheinen. Er hatte die Einladung wohl schon vergessen. Die Feier konnte ohne gefährliche ›Externe‹ stattfinden. Wehmütig dachte Ullrich an die Zeit an der Uni zurück, in der Alter und Verfall kein Thema waren. Alles schien damals möglich, als er noch überzeugt war, im guten Deutschland zu leben.
In Gedanken versunken trat er aus dem Eckhaus gegenüber der Marienkirche auf die Lange Straße. Gebrüll und der Gestank von Feuerwerkskörpern und Fackeln holte ihn augenblicklich in die Gegenwart zurück. Er stand unversehens mitten in der Meute, die johlend, ihre schwarz-roten Fahnen schwingend, vom Stadthafen über den Burgwall herauf dem Neuen Markt zuströmte. Immer lauter skandierten die meist jungen, kahlgeschorenen Männer Parolen wie: »Islamisten raus!«, »Deutschland den Deutschen!« und »Sieg Heil!«. Sein militärischer Bürstenschnitt und die Schnürstiefel, die er trug, um seinen kaputten Fuß zu schonen, legitimierten ihn als einen der Ihren. Ob er wollte oder nicht, schob und zerrte ihn die Meute der Nazis mit sich auf den Marktplatz, wo sein Auto stand. Sein Fuß stieß an die Bordsteinkante. Er stürzte beinahe, hielt sich jedoch im letzten Moment am Vordermann fest.
»Nicht schlappmachen, Alter!«, brüllte der ihm ins Ohr.
Er richtete sich auf und spürte einen Stich, als steckte ein Hunderter Nagel im Fuß. Es war die regelmäßig wiederkehrende Erinnerung an seine dunkle Zeit im ›Gelben Elend‹, der DDR-Justizvollzugsanstalt Bautzen, in der die Stasi sich nach Lust und Laune austoben durfte.
Mit einem Mal begriff er, was die Neonazis bis zum Siedepunkt aufheizte. Ein Demonstrationszug muslimischer Männer,