Vollzug. Hansjörg Anderegg

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Vollzug - Hansjörg Anderegg

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Selbst Islam Bencherif ließ sich jedes Mal mitreißen. Der charismatische ›Chatib‹ blickte jetzt direkt in die Kamera. Der nächste Ausruf galt den vielen Zellen der al-Qaida rund ums Mittelmeer und im verhassten Europa. Er wandte sich an die kleinen, verstreuten Gruppen und einsamen Wölfe, die ungeduldig auf ihren Einsatz im Kampf der Gerechten warteten.

      »Das Schwert Allahs ist unbesiegbar!«

      »Allahu akbar!«, riefen die Männer mit erhobener Faust.

      Das Echo der Grotte täuschte auf dem Video eine um ein Vielfaches größere Menschenmenge vor. Abu Jihad hob den Mahnfinger, bevor er weitersprach.

      »Aber seid wachsam. Der Feind ist nah. Überall lauern die Heerscharen des Satans. Selbst Araber in diesem Land, die eigentlich unsere Brüder sein müssten, haben die gerechte Sache schändlich verraten. Sie verspotten den heiligen Koran und den Propheten, führen das lasterhafte Leben der Ungläubigen, kleiden sich wie Narren und Huren und lachen über die Gesetze der Scharia, die uns der Prophet selbst geschenkt hat. Sie werden ewig in der Hölle brennen!«

      Wieder entlud sich die aufgeheizte Stimmung im Ruf: »Allah ist groß!«. Islam Bencherif teilte die Wut über den Betrug an der Revolution, die der Prediger ausdrückte. Er beurteilte die Zustände in den Ländern Nordafrikas differenzierter und hätte nüchterner gesprochen als Abu Jihad, aber der Alte traf den Kern des Problems. Europäischer Kolonialismus und seine moderne Form unter dem Deckmantel der ›Demokratisierung‹ hatte bisher stets Tod und Verderben gebracht, korrupte Politiker gezüchtet und die Gesellschaft gespalten durch extreme Ungleichheit. Verwahrlosung, Verbrechen und Massenexodus aus purer Verzweiflung bedrohten die Völker Nordafrikas. Die Jugend hatte keine Zukunft. So durfte es nicht weitergehen. Für ihn wie für Abu Jihad gab es deshalb nur ein vordringliches Ziel: die Befreiung der arabischen Muslime vom Ungeziefer aus Europa, Israel und den USA. Für diesen Heiligen Krieg, den Dschihad, hatte er schon in Afghanistan gegen den großen Satan gekämpft, weshalb ihn seine Brüder manchmal ›den Afghanen‹ nannten. Das Ziel war noch weit entfernt. Manche Schlacht musste noch geschlagen werden, aber sie kämpften für die gerechte Sache. Gott war auf ihrer Seite. Allahu akbar!

      Die Predigt nahm den gewohnten Lauf. Abu Jihads Charisma zog die Männer auch an diesem Freitag in den Bann. Er verstand es wie kein Zweiter, ihrem harten Leben Sinn zu geben, indem er virtuos mit der latenten Unzufriedenheit spielte und gleichzeitig Balsam auf ihre wunde Seele tropfte. Die Zeit des Gebets nahte. Islam Bencherif fürchtete schon, die Predigt würde ohne den Aufruf enden, den er mit Abu Jihad besprochen hatte. Seine Furcht war unbegründet. Noch einmal wandte sich der Alte direkt an die Zuschauer draußen in aller Welt, die das Video in wenigen Minuten auf ihren Computerbildschirmen sehen würden:

      »Frankreich schickt seine Söldner ins Nachbarland Mali, um unsere Brüder zu töten. Frankreich liefert der korrupten Regierung dieses Landes Waffen, um uns zu töten. In Deutschland werden unsere Brüder verfolgt, gedemütigt und eingekerkert. Moscheen brennen in deutschen Städten. Europa ist unser gefährlichster Feind. Brüder, die Zeit ist gekommen, das Schwert zu erheben! Europas Städte werden brennen. Denkt an die neunte Sure des heiligen Koran: Tötet die Ungläubigen, wo immer ihr sie findet. Die Ungläubigen werden zur Hölle fahren. Die große Schlacht hat begonnen. Allahu akbar!«

      »Allahu akbar!«, schrien die Männer außer sich.

      Marseille

      Der Mann mit dem schwarzen Vollbart und der gehäkelten weißen Mütze blickte sich unauffällig um, bevor er den verwilderten Garten des Hauses am Boulevard de la Méditerranée unweit der Mairie betrat. Er fiel nicht auf in dieser Gegend mitten in den Marseiller Quartiers Nord, dem Ghetto nördlich der Frontlinie Canebière, welche den armen Norden vom reichen Süden trennt. Ihm folgten im Abstand weniger Minuten vier weitere Männer, die ihm auf den ersten Blick glichen wie ein Ei dem andern. Ihr Ziel war der Schuppen im Gebüsch hinter dem Haus, der Ort für ›Gipfeltreffen‹, Versammlungen unter höchster Geheimhaltung. Mohammed Hamidi, der als Erster eingetroffen war, hatte seine engsten Vertrauten zu dieser Sitzung befohlen, der wichtigsten seit Langem.

      »Ihr habt das Video gesehen«, begann er.

      Es war eine Feststellung, keine Frage. Die Männer murmelten zustimmend. Er nickte befriedigt und sprach weiter:

      »Endlich ist es soweit. Der Plan wird ausgeführt wie vorgesehen.«

      »Wann?«, fragte einer, während er die Landkarte des Küstenstreifens auf dem Tisch ausbreitete.

      »Ich erwarte den Anruf jede Minute. Also gehen wir den Ablauf der Operation nochmals durch. Jeder Handgriff muss sitzen. Wir werden unsere Brüder nicht enttäuschen.«

      Die Aufgaben waren längst verteilt. Mechanisch wiederholte jeder, was er zu tun hatte, beschrieb seinen Einsatz auf der Karte, zählte die Probleme auf, mit denen er rechnen musste und wie er in jedem Fall reagieren würde. Mohammed Hamidi war stolz auf seinen generalstabsmäßigen Plan und stellte beruhigt fest, wie perfekt ihn seine Leute verinnerlicht hatten.

      »Gibt es Veränderungen am Objekt in letzter Minute?«, fragte er die beiden Beobachter, die das Ziel erkundet hatten.

      »Nicht am Objekt selbst …«, antwortete Basem Mansour zögernd.

      Er war der Jüngste unter ihnen, war aber dank dem langen Bart nicht von seinen älteren Brüdern zu unterscheiden.

      »Was willst du damit sagen, Basem?«

      »L‘initié, der Insider … Ich glaube, er könnte Schwierigkeiten machen.«

      »Ich knall ihn ab, den Hund!«, schimpfte der Buchhalter, der sonst für die Finanzen des Drogengeschäfts zuständig war und sich jetzt um die Schmiergeldzahlungen der Operation kümmerte. »Keinen Centime mehr kriegt der Hurensohn.«

      Mohammed Hamidi legte die Stirn in Falten und fragte lauernd:

      »Will er uns erpressen?«

      »Das wagt er nicht, aber er hat angedeutet, dass er Stoff braucht. Ich nehme an, das sagt er, weil er etwas von uns erwartet.«

      Wieder wollte der Buchhalter aufbrausen, doch Mohammed Hamidi gebot ihm mit einer Handbewegung, zu schweigen.

      »Gut beobachtet, Basem«, lobte er. »Ich würde dem Insider sofort die Kehle durchschneiden, das wisst ihr, aber wir brauchen ihn noch. Wir dürfen jetzt kein unnötiges Risiko eingehen.«

      Wenige Tage noch mussten sie den Mann bei der Stange halten, der ihnen den Zugang zur Anlage ermöglichte.

      Der Buchhalter räusperte sich.

      »Wir haben noch etwas vom Dreck der Albaner übrig, den niemand kauft.«

      Das verschmutzte Crack war der reine Killer. Wer es in der üblichen Dosierung konsumierte, spielte mit seinem Leben. Genau das Richtige für den Verräter – nur nicht jetzt, dachte Mohammed Hamidi. Mit der Aussicht auf dieses Teufelszeug hatten sie den Insider-Junkie in der Hand. Seine Stirn glättete sich, als er Basem den Auftrag gab.

      »Gib ihm erst nur eine kleine Dosis, damit er weiß, was ihn erwartet – nach der Operation«, schärfte er ihm ein.

      Der Ruf des Muezzin schreckte sie auf. Erregt griff er zum Satellitentelefon, von dem das Geräusch stammte. Außer den Versammelten kannte nur ein Mensch dieses Telefon und seine Rufnummer. Er erhob sich und meldete sich mit einem ehrerbietigen:

      »Allahu akbar.«

      Das

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