Vernichten. Hansjörg Anderegg

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Vernichten - Hansjörg Anderegg

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zugegeben perfekt modellierten – Silikonimplantaten hob und senkte sich in gefährlich rascher Folge. Sie fächerte sich mit der flachen Hand Luft zu, wandte sich ab und alarmierte die Belegschaft des Salons. Die Angestellten ließen ihre Kundinnen im Stich und eilten mit besorgten Mienen herbei. Der Betrieb stand still. Chris wusste jetzt, wie sich Schimpansen im Zoo fühlten. Wenigstens trennte die eine Glasscheibe von den Gaffern. Die Chefin bahnte sich einen Weg durch die Menge. Jeanne versuchte zu erklären, was sie so erschütterte, doch ihre Stimme versagte. Zu tief saß der Schock.

      »Ist etwas nicht in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin.

      Chris spielte die Ahnungslose und zuckte die Achseln.

      »Ich will mir nur den Zopf abschneiden lassen.«

      »Nein!«, riefen die Umstehenden im Chor.

      Die Aufregung war zu viel für Jeanne. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich in die Arme der Kolleginnen fallen. Selbst die Chefin fand die Sprache nicht sofort wieder.

      »Aber – haben Sie sich diesen Schritt auch wirklich gründlich überlegt?«, stammelte sie.

      Jeannes Vorstellung war noch nicht zu Ende. Sie warf sich Chris zu Füßen und flehte sie an:

      »Chère madame commissaire – erbarmen Sie sich meiner! Lassen Sie diesen bitteren Kelch an mir vorüberziehen! Zwingen Sie mich nicht, das Undenkbare zu tun, das schönste, längste, wundervollste Haar Berlins – was sage ich: die schönste Haarpracht Deutschlands! – brutal abzuschneiden!«

      Jedem Satz folgte ein deutlich hörbares Ausrufezeichen. Chris tätschelte ihr mitfühlend die Hand.

      »Ma chère, beruhigen Sie sich. Haare wachsen nach. Es muss einfach sein.«

      »Aber warum in Gottes Namen? Hach – es ist eine Sünde.«

      Jeanne blickte sich Hilfe suchend um und stellte die rhetorische Frage mit ersterbender Stimme:

      »Ist es nicht eine wahre Sünde?«

      Chris entschloss sich zu einer drastischen Maßnahme, um das Verfahren abzukürzen. Sie flüsterte Jeanne ins Ohr:

      »Wenn Sie mir schnell einen schicken Kurzhaarschnitt verpassen, verrate ich Ihnen ein Geheimnis, das noch niemand kennt.«

      Jeanne traute ihren Ohren nicht und warf ihr einen leidenden Blick zu. Erst Chris‘ Augenaufschlag überzeugte sie. Mit einem tiefen Seufzer scheuchte sie die Zuschauerinnen weg.

      »Husch, husch, meine Lieben, zurück an die Arbeit, oder habt ihr nichts zu tun?«

      Sie wartete mit dem Blick der Kindergärtnerin bis alle ihren Platz gefunden hatten, bevor sie die längst fällige Frage stellte:

      »Was haben Sie sich denn genau vorgestellt, Madame?«

      »Der Zopf muss weg«, lag Chris auf der Zunge, doch sie hütete sich, die brutale Wahrheit nochmals auszusprechen. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie sich keinerlei Gedanken über den nächsten Schritt gemacht hatte, so fixiert war sie auf die Vorstellung, das strohblonde Teil loszuwerden, mit dem sie nicht zuletzt ihren Ehemann Jamie geangelt hatte. Jeanne erwartete glücklicherweise keine Antwort. Behände entflocht sie den dicken Zopf, der fast bis zum Po reichte, wickelte das lange Ende locker um einen Arm und rückte das Haar mit der andern Hand so zurecht, dass Chris eine Vorstellung davon bekommen sollte, was sie sich vorstellte.

      »Passt!«, beeilte Chris sich zu versichern.

      »Sie werden ein gaaanz neuer Mensch, Madame«, flüsterte die Hairstylistin ergriffen mit langgezogenem A. »Wir schneiden Ihnen ein luftiges Kurzhaarfrisürchen mit neckischer, schräger Ponypartie. Was halten Sie davon?«

      Chris bekundete begeisterte Zustimmung, ohne zu verstehen, wovon die Gute sprach. Wenn Jeanne in den Pluralis Majestatis verfiel und die Sätze mit »Wir« begannen, blieb ohnehin wenig Spielraum für Diskussionen. Abgesehen davon hatte sie sich vorgenommen, im Laufe des Tages doch noch im BKA-Präsidium in den Treptowers aufzutauchen – bevor Staatsanwältin Winter die Fahndung auslösen würde. Jeanne hielt inne, bevor sie die Schere zum fatalen Schnitt ansetzte, und beugte sich mit ernster Miene zu ihr herunter.

      »Vergessen Sie nicht, Sie haben mir etwas versprochen, Madame – das Geheimnis!«

      »Sobald der Zopf ab ist.«

      Jeanne begann seufzend mit der qualvollen Arbeit. Sorgsam reihte sie Strähne um Strähne des über fast zwei Jahrzehnte gewachsenen Haares auf dem Glastisch aneinander, als wären es kostbare Reliquien. Kolleginnen unterbrachen die Arbeit, fasziniert von einem Hochamt, wie es noch nie zelebriert worden war in diesem Salon. Die Chefin verließ ihren Arbeitsplatz ein weiteres Mal, um das Wunder aus der Nähe zu betrachten. Gedankenverloren ließ sie das Haar durch die Finger gleiten, bevor sie ohne ein Wort zu sagen an den Schreibtisch zurückkehrte.

      »Sie ist scharf auf Ihr Haar«, flüsterte Jeanne aufgeregt. »Verkaufen Sie es ja nicht zu billig, mindestens fünfhundert.«

      »Wie bitte?«

      »Fünfhundert Euro mindestens für diese Länge und Qualität.«

      Chris begann zu begreifen, dass sie das erste Mal im Leben etwas produziert hatte, was man verkaufen konnte. Während Jeanne den kümmerlichen Rest ihrer Haare wusch, um sie fürs Ausdünnen und Schneiden vorzubereiten, erfuhr sie mehr übers Geschäft, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte. Gesundes, langes Haar von Europäerinnen ist selten und gesucht. Es eignet sich besser für Perücken und Verlängerungen als Haar von Inderinnen, das zwar reichlich vorhanden ist aber erst aufwendig behandelt werden muss.

      Vor dem Spülen legte Jeanne noch einmal eine Pause ein, begleitet von einem fragenden Blick. Chris winkte sie näher heran und flüsterte so leise, dass nur sie es hören konnte:

      »Ich bin schwanger.«

      »Neiiin!«

      Jeannes Ausruf der Überraschung ließ den Salon erstarren. Für einen Augenblick stand die Zeit still. Beim nächsten Atemzug tauchte die Chefin bei ihnen auf.

      »Alles in Ordnung?«, fragte sie, ohne die Lippen zu bewegen.

      Chris lächelte verträumt. Nie zuvor hatte sie den Satz ausgesprochen, der ihr Leben auf den Kopf stellte: Ich bin schwanger. Nicht einmal Jamie ahnte etwas von ihrem Glück. Vielleicht glaubte er etwas zu ahnen, weil er mit ihr hoffte nach vielen vergeblichen Versuchen, aus Solidarität und Zweckoptimismus. Gewissheit hatte nur sie.

      »Alles in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin noch einmal, tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.

      »Alles gut, es könnte nicht besser sein«, beruhigte sie.

      Kaum waren sie wieder allein, begannen Jeannes Fragen auf sie einzuprasseln. Die neue Frisur entstand nebenbei aus dem Handgelenk. Wichtig war nur noch das eine Thema. Die Aufregung stand Jeanne ins Gesicht geschrieben, als wäre sie selbst schwanger geworden. Chris spielte eine Weile mit. Es tat ihr gut, mit jemandem darüber zu sprechen. Sie sonnte sich im Gefühl, es gäbe nichts anderes Wichtiges mehr auf der Welt, alles drehte sich einzig und allein um das winzige Lebewesen, das in ihrem Bauch heranwuchs.

      »Sie werden doch jetzt nicht weiter Ganoven jagen«, sagte Jeanne unvermittelt, das nackte Entsetzen in den Augen.

      Chris

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