Zwang zu töten. Dieter Aurass
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Ulf nickte lediglich schweigend und würdigte ihn keiner Antwort. Sie wäre vermutlich etwas barsch ausgefallen, da ihn die lockere Art, mit der viele Beamte der Spurensicherung, die ja an fast jeden Tatort gerufen wurden, schon immer gestört hatte. Es mangelte vielen von ihnen an Empathie und Pietät.
Grundsätzlich hatte er Verständnis dafür, dass diese Arbeit zu einer Verrohung oder Abstumpfung führte, denn anders wäre diese Tätigkeit langfristig wohl nicht zu ertragen gewesen. Aber dennoch störte es ihn, wenn an Fundorten von Leichen Witze gerissen wurden oder gelacht wurde.
Er und Harry betraten den Raum, bei dem es sich um ein Lager handeln sollte, was sie an zwei Regalwänden bestätigt sahen, in denen Bekleidung und technische Gerätschaften abgelegt waren. Zwei weitere Wände bestanden aus unbehandeltem Beton, in dem Haken und Ösen eingelassen waren, deren Zweckbestimmungen nicht sofort ersichtlich waren.
Eine schwere Eisenkette war an einem Haken in der Wand befestigt und führte über eine Öse in der Decke wieder nach unten. In der Verlängerung darunter befand sich eine riesige Pfütze, bei der Ulf Auer davon ausging, dass es sich um Blut handelte. Bei der Größe der Pfütze ging er ebenfalls davon aus, dass die Person, die noch vor Kurzem an der Kette gehangen haben musste, komplett ausgeblutet war.
Die Leiche lag etwas abseits außerhalb der Blutlache auf einer Plastikfolie, um Verunreinigungen vom Hallenboden an der Kleidung zu vermeiden. Ulf und Harry näherten sich langsam dem Körper, über den einer der Spurensicherungsbeamten gebeugt stand und mit behandschuhten Händen gerade die Gesäßtasche der blutdurchtränkten Hose durchsuchte. Ein weiterer Beamter machte Fotografien aus allen möglichen Blickwinkeln.
„Und, was könnt ihr uns denn schon sagen?“, fragte Harry den Kollegen, der gerade eine Brieftasche herausgezogen hatte und diese aufklappte.
„Mit etwas Glück gleich noch mehr, als dass wir hier eine männliche Leiche haben, die offensichtlich ausgeblutet ist. Also gedulde dich noch ein paar Sekunden.“
Ulf grinste in sich hinein. Es war typisch für Harry, die Initiative zu ergreifen und sofort zu fragen, anstatt darauf zu warten, dass der Kollege ihnen die Informationen von sich aus gegeben hätte. Geduld war noch nie Harrys Stärke gewesen.
Zum Glück wurde seine mangelnde Geduld nicht auf eine große Probe gestellt, denn bereits nach wenigen Augenblicken richtete sich der Beamte ächzend auf und entnahm der Brieftasche mehrere mit Blut beschmierte Karten.
„Ihr habt Glück, Freunde. Der Personalausweis lag zwischen Führerschein und irgendwas anderem und ist gut lesbar. Wenn ich es richtig entziffern kann, heißt euer Opfer Raimund Kellermann, ist, beziehungsweise war ... Moment ...“, er richtete die Augen gegen die Decke und bewegte lautlos die Lippen, „ ... wenn ich richtig rechne, fünfundvierzig Jahre alt. Als Wohnort ist hier Koblenz, Simmerner Straße 74, angegeben.“
Ulf hob überrascht die Augenbrauen an. Diese Gegend war jedem Kriminalbeamten in Koblenz nur zu gut bekannt, denn in dieser Straße befand sich unter der Hausnummer 14A die Justizvollzugsanstalt Koblenz im Stadtteil Karthause. Die Adressen mit den höheren Hausnummern lagen oberhalb der JVA und hatten oft einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt.
„Was kannst du uns denn zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt sagen?“, fragte Ulf, nachdem er sich die Daten notiert hatte.
Der Spurensicherer wiegte den Kopf hin und her, bevor er antwortete.
„Angesichts der hohen Temperatur in diesem Raum“, er wischte sich mit dem Ärmel seines weißen Overalls den Schweiß von der Stirn, „bin ich so kühn, mal zu behaupten, dass euer Opfer seit mindestens sechs Stunden tot ist. Soweit ich mitbekommen habe, war ein Mitarbeiter dieses Tempels der Schießwütigen gestern um vierundzwanzig Uhr das letzte Mal in diesem Raum.“
Er grinste breit. „Ich geh mal davon aus, dass das Opfer da noch nicht hier hing. Da er vermutlich hier ausgeblutet ist, können wir den Todeszeitpunkt wohl auf irgendwann zwischen null und zwei Uhr festlegen, da der Tote heute Morgen um neun Uhr entdeckt wurde. Aber da müsst ihr sicherlich noch ein wenig ermitteln, und da gibt es ja auch noch die Rechtsmedizin.“
Zwischenzeitlich waren auch Gerd Duben und Coco Crott hinzugekommen und hatten die letzten Ausführungen mitgehört. Beide waren so umsichtig, keine Fragen zu stellen, die Ulf oder Harry vielleicht schon längst gestellt hatten.
„Okay“, meinte Ulf nachdenklich. „Dann schlage ich vor, dass Harry und ich wieder ins Präsidium zurückkehren und ihr ...“, er blickte Duben und Coco an, „... seid bitte so gut und klärt hier die noch offenen Fragen. Also, wer hat Zugang, wer sind die Beschäftigten ...? Ach was, das brauch ich euch ja nicht zu sagen.“
Er hatte den vorwurfsvollen Blick von Duben bemerkt, der sehr genau wusste, welche Ermittlungen an einem Tatort durchzuführen waren. Und selbst Coco, die ja gerade erst ihre Prüfung abgelegt hatte, war mit Sicherheit in der Lage, an alle wichtigen Ermittlungen zu denken. Aber Ulf konnte seine Angst, irgendetwas könnte in Vergessenheit geraten oder übersehen werden, einfach nicht unterdrücken.
„Sorry, Leute. Wir machen uns jetzt auf den Weg, und wir können uns ja jederzeit telefonisch austauschen. Ich sende Fisch gleich die Personalien des Opfers, und dann schauen wir mal, was er im Internet über ihn herausfinden kann.“
Noch im Hinausgehen drehte er sich ein letztes Mal um und rief dem Spurensicherer zu: „Und ihr stellt so schnell wie möglich alle Informationen in unsere Datenbank, ja?“
„Aber natürlich, großer Meister“, antwortete ihm der Kollege, „gut, dass du es erwähnt hast. Ich hätte sicherlich nicht dran gedacht.“
Ulf Auer sah zu, so schnell wie möglich wieder zum Auto zu kommen, konnte aber nicht verhindern, dass ihn das Gelächter der Kollegen verfolgte.
Kapitel 3
Polizeipräsidium, Büro der MK, 10:30 Uhr
„Also, was wollt ihr denn so wissen?“, begrüßte Fisch seine Kollegen Auer und Harry, als sie den Kellerraum betraten, in dem die Mordkommission angesiedelt war.
Das Großraumbüro, in das die Truppe vor mehr als einem Jahr verbannt worden war, stellte inzwischen eine gut ausgestattete Zentrale für das fünfköpfige Team dar, in der es an nichts fehlte: Eine moderne Kaffeemaschine war ebenso unverzichtbar wie die Besprechungsecke, und die locker auf den etwa fünfzig Quadratmeter großen Raum verteilten Schreibtische boten ausreichend Platz. Des Weiteren verfügte der Raum über eine kleine Teeküche und eine eigene Toilette mit Waschgelegenheit. Als einziges Manko empfand Auer lediglich die auf einer Seite des Raums gelegenen mickrigen Oberlichter, die nur sehr wenig Tageslicht in den Raum gelangen ließen.
„Du hast also schon ein wenig das Internet gequält“, bemerkte er jetzt mit einem anzüglichen Grinsen. „Was hast du denn so über unser Opfer herausfinden können?“
„Eine ganze Menge. Der war schon ein recht erfolgreicher Geschäftsmann. Seine Werbe- und Marketingfirma ist wohl ziemlich renommiert, hat die Geschäftsräume im Zentrum von Koblenz, und seine Villa auf der Karthause ist, wenn man den Luftaufnahmen bei Google Earth glauben darf, auch nicht ohne.“
„Familienstand?“, warf Harry in die Unterhaltung ein.
„Geschieden, wobei ...“, Klaus Saibling machte eine bedeutungsschwere Pause, „... ich mit dem Scheidungsurteil