Zwang zu töten. Dieter Aurass
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Coco hatte genug Zeit gehabt, sich eine an diese kalte Gelassenheit angepasste Vorgehensweise zu überlegen.
„Ihr Mann wurde ermordet.“
Kein Drumherumgerede, kein vorsichtiges Herantasten, sondern einfach die Fakten. Verena Kellermanns Reaktion hätte nicht überraschender sein können.
„Soso. Und was geht das, mal abgesehen von dem Umstand, dass er mir nun keinen Unterhalt mehr zahlen wird, mich an? Das hätte mir auch das Gericht mitteilen können. Oder der Notar, falls ich wider Erwarten vielleicht doch was erbe.“
Sie sah die beiden weiterhin ohne die geringste Gefühlsregung erwartungsvoll an, und Auer war schockiert. Bevor er irgendetwas sagen konnte, ergriff Coco schnell wieder das Wort.
„Angesichts des Umstandes, dass Sie nicht wirklich betroffen wirken, erlaube ich mir, offen mit Ihnen zu reden. Mal abgesehen davon, dass Sie im Erbfall auf jeden Fall zum Kreis der Tatverdächtigen gehören, gebietet es der Anstand, dass man die nächsten Angehörigen als Erstes verständigt, bevor sie die unappetitlichen Einzelheiten aus der Presse erfahren. Deshalb ...“, sie unterbrach sich, denn Verena Kellermann war in ein lautes und herzliches Lachen ausgebrochen.
Coco fiel auf, dass Auer völlig schockiert immer wieder zwischen ihr und Frau Kellermann hin und her blickte. Er war weit emotionaler veranlagt als Coco und konnte offensichtlich nicht fassen, was er da hörte.
Verena Kellermann hatte sich wieder etwas beruhigt.
„Nächste Angehörige ... das ist gut ... da müssen Sie aber lange suchen. Zu seinen Eltern hatte der schon seit Jahren keinen Kontakt mehr, und als Einzelkind hat er ansonsten nichts, das man als ‚Angehörige‘ bezeichnen könnte. Der Arsch hat es sich eigentlich mit jedem so sehr verdorben, dass seine Beerdigung vermutlich eine ‚One-Man-Show‘ werden wird. Haha.“
Erstmals bereute Coco es, dass das Scheidungsurteil nicht mehr hergab als ein „unüberbrückbares Zerwürfnis“ aufgrund „psychischer Dissonanzen“, die allerdings nicht näher erläutert waren.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als genau diesen Punkt zu hinterfragen.
„Was waren das für psychische Dissonanzen, von denen in Ihren Scheidungspapieren die Rede ist?“
Verena Kellermann reagiert nicht überrascht, dass der Polizei dieser Umstand bereits bekannt war, sondern erläuterte kalt: „Er war bekloppt. So einfach ist das. Total bekloppt.“
Sie sah die Fragezeichen in den Augen der Beamten und fuhr seufzend fort: „Okay, das ist nicht der offizielle Begriff, aber für mich hat es sich so dargestellt. Mein lieber Ex-Mann hatte Arithmomanie, und falls Ihnen das nichts sagt ...“, es sagte Coco zwar etwas, und auch bei Auer sah sie ein Verstehen, aber sie wollte die Frau nicht in ihren Ausführungen unterbrechen, „... das bedeutet ‚Zählzwang‘. Das hört sich harmlos an, aber Sie können sich nicht vorstellen, was das, verbunden mit einer despotischen Veranlagung, für seine Umgebung, also die Ehefrau, Verwandte und vor allem alle, mit denen er beruflich zu tun hatte, wirklich bedeutet. Zumal er sich gegen jede mögliche Hilfe mit aller Kraft gewehrt hat. Er wollte das zwar loswerden, hat aber alle, die ihm helfen wollten, niedergemacht und als inkompetent hingestellt.“
Coco wusste aus ihrem Psychologiestudium und aus ihrem Praktikum im „Nette-Gut“, der Einrichtung für gewalttätige psychisch Kranke, dass eine ausgeprägte Arithmomanie sowohl für den Betroffenen als auch sein Umfeld eine wirklich große Belastung darstellen konnte. Sie musste es nicht ausführen, denn das übernahm Verena Kellermann sofort und ungefragt.
„Er hat alles gezählt ... ALLES! Und wehe dem, der ihn dabei unterbrach oder gar bat, das doch zu lassen. Ha! Schritte, Latten an einem Zaun, die Streifen an einem Fußgängerüberweg, Treppenstufen, Bücher in einem Regal, Fliesen auf dem Boden, die korrekte Anzahl der Tassen und Teller im Schrank, einfach wirklich alles, was zählbar war.“
Sie war während ihrer Ausführungen immer lauter geworden.
„Und wenn jemand weiß, woher die Redewendungen ‚nicht mehr alle Latten am Zaun‘ oder ‚nicht mehr alle Tassen im Schrank‘ kommen könnten, dann sicherlich ich. Es war einfach nicht mehr zu ertragen.“
Sie hatte sich immer weiter nach vorne gelehnt und ließ sich nun erschöpft in den Sessel zurücksinken. Dann ergänzte sie ihre Ausführungen leise: „Wenn ich nicht so unter ihm gelitten hätte, könnte er mir nun fast leidtun. Nun aber zu sagen, das habe er nicht verdient, erschiene mir scheinheilig. Und eines kann ich Ihnen sagen“, setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu, „Sie werden wenige finden, die anders darüber denken.“
Kapitel 6
Polizeipräsidium, Büro der MK, 17:55 Uhr
Es ging auf achtzehn Uhr zu, aber es war nicht ungewöhnlich, dass sich die Mitglieder der MK bei einem aktuellen Fall um diese Zeit noch in den Diensträumen aufhielten oder, wie heute, gerade erst wieder zusammenfanden, wenn sie von verschiedenen Ermittlungsorten zurückkehrten.
Obwohl Fisch den gesamten Nachmittag auf der Dienststelle vor seinem Computer verbracht hatte, war er der Erste, der an den Kühlschrank neben der Kaffeemaschine ging und sich ein „Feierabend-Bier“ herausholte.
„Noch jemand?“, rief er in den Raum, aber außer einem: „Ja, ich bitte“, von Harry erntete er nur Kopfschütteln. Die anderen drei versorgten sich mit Kaffee und setzten sich an den Besprechungstisch.
„Fangt ihr bitte an“, forderte Auer Duben und Harry auf, während er sich noch Milch und Süßstoff in den Kaffee einrührte. Es wunderte ihn nicht, dass Gerd Duben das Wort ergriff, denn obwohl Harry den höheren Dienstgrad hatte, war es Duben, der eloquenter war und in der Lage, sachlich und auf den Punkt die wichtigsten Fakten zu schildern, ohne ins Schwafeln zu kommen.
„Ich muss ehrlich sagen, dass ich so was noch nie erlebt habe wie in dieser Werbeagentur. Wir beide nicht, oder?“, er blickte zu Harry, der nur wortlos nickte. „Von den sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Opfers waren lediglich zwei Frauen betroffen, die anderen fünf waren richtiggehend happy und erleichtert, dass der, Zitat: ‚Despot endlich weg ist!‘. Zitat Ende. Auf jeden Fall hat niemand ihm eine Träne nachgeweint. Er muss ein echter Tyrann gewesen sein, der weder Widerspruch geduldet noch eine andere Meinung als seine eigene akzeptiert hat. Er hat zwar die Agentur aus dem Nichts heraus aufgebaut und groß gemacht, aber dennoch hielt sich die Dankbarkeit der Mitarbeiter für ihre lukrativen Arbeitsplätze sehr in Grenzen. Also könnte man bei diesen Personen schon jemanden dabeihaben, der ein Motiv für einen Mord hat, auch wenn ich jetzt noch niemanden definitiv benennen könnte.“
Er machte eine kurze Pause und trank ein wenig von seinem Kaffee. Dann blickte er kurz auf seine Notizen, bevor er fortfuhr: „Bei einer Mitarbeiterin hatte ich zuerst so ein Gefühl, eine gewisse Katrin Günther, weil sie so unsäglich erleichtert schien, aber im Laufe des Gesprächs hat sich herausgestellt, dass er ihr gestern gekündigt hatte und sie lediglich Angst vor einem extrem schlechten Zeugnis hatte. Am meisten aufgestoßen ist mir die Art eines gewissen“, er blickte erneut auf seine Notizen, „Heinz Meiser, der seine Freude und Zufriedenheit weder verstecken konnte noch überhaupt wollte. Er muss Kellermann regelrecht gehasst haben, obwohl er sein zweiter Mann in der Agentur war. Da werden wir noch mal genau nachhaken müssen, woher dieser Hass auf seinen Chef kam. Die Kollegen wollten auch nicht damit rausrücken. Ich gebe Fisch gleich alle Namen und Daten der Personen, dann kann er mal sehen, ob er über die was rausfinden kann.“