666 Der Tod des Hexers. Micha Krämer
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„Fabrice hatte schon immer einen besseren Draht zu Mädchen. Das war schon im Kindergarten so … und, nein, er ist nicht schwul … falls Sie das jetzt denken.“
Zugegeben, der Gedanke war Heike schon kurz gekommen. Überhaupt machte Fabrice auf sie einen eher femininen Eindruck. Sie nahm ein Foto von der Wand, auf dem er mit den vier Mädchen seiner Band abgelichtet war. Fabrice war darauf, genau wie seine Bandkolleginnen, eindeutig und ziemlich stark geschminkt. Er erinnerte sie ein wenig an den Sänger von Tokio Hotel. Wie hatte der noch gleich geheißen? Egal. Alles in allem schien Fabrice Gladenberg keine graue Maus gewesen zu sein. Die Bezeichnung „Paradiesvogel“ würde ihn wohl am besten umschreiben. Heike ließ ihren Blick weiter über die Wände schweifen. Über dem Bett hing ein Kreuz mit dem angeschlagenen Heiland daran. Das Besondere an dem Kreuz war der Umstand, dass der Gekreuzigte samt dem Kreuz verkehrt herum aufgehängt worden war. Was es bedeutete, war ihr schon klar. Neben dem Bett ein Regal mit Schallplatten und CDs. So etwas sah man heutzutage nur noch selten. Selbst zu ihrer Jugendzeit hatte es nur noch wenige Platten aus Vinyl gegeben. Sie wusste aber, dass es für diese Art Tonträger auch heute noch viele Sammler gab. Fabrice besaß, grob geschätzt, einige Hundert davon. Draußen vor dem Haus wurde ein Wagen gestartet. Heike blickte kurz aus dem Fenster und sah Nina, die zurück zum Haus ging. Eigentlich hatte Heike gehofft, dass sie sich gleich noch einmal gemeinsam mit Sarika unterhalten könnten. Aber gut, das Mädchen lief ihnen nicht weg. Eines nach dem anderen. Jetzt waren sie erst einmal hier, um sich umzuschauen. Heike trat vor, zog eine Plattenhülle aus dem Regal heraus, las den Namen der Band und betrachtete das Bild. Es zeigte einen Dämon vor einem rot glühenden Himmel, der eine Kette schwang, an deren Ende sich ein ertrinkender Priester befand.
„Fabrice lebt für seine Musik“, hörte Heike die Mutter sagen und blickte zur Tür, in der nun auch Nina erschien.
„Ohh, Dio, Holy Diver“, sagte diese direkt und lächelte wissend.
„Du kennst die Platte?“, wunderte Heike sich, da sie selbst noch nie davon gehört hatte und auch mit dieser Art von Musik überhaupt nichts anfangen konnte. Zu ihrer Teenagerzeit war es in gewesen, Take That oder Backstreet Boys zu hören.
„Ja, hatte ich mal auf CD“, antwortete Nina, trat zu Heike an das Plattenregal und zog eine weitere Hülle heraus. Das Cover war ähnlich abscheulich. Allerdings hatte selbst Heike von der Band Iron Maiden schon einmal etwas gehört.
„The Number oft the Beast“, las Nina laut vor und nickte zustimmend.
„Lass mich raten … Die hattest du auch mal als CD?“, schlussfolgerte Heike.
„Nein, aber mein Göttergatte besitzt die Scheibe ebenfalls“, bestätigte Nina nur indirekt, was Heike befürchtet hatte.
„Sag mal, hat Klaus nicht auch Theologie studiert?“, fiel Heike ein.
„Ja, auf Lehramt. Warum?“, wunderte Nina sich erst, bevor sich ihr Blick aufhellte.
„Ach so, du meinst, wegen der Schallplatten …“, Nina winkte ab. „Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.“
„Meinen Sie nicht, dass Sie lieber nach meinem Sohn suchen sollten, als hier über Musik zu diskutieren?“
Die Stimme von Frau Gladenberg klang schneidend und vorwurfsvoll.
Nina wirbelte herum, zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und hielt es der Frau hin. Heike befürchtete schon, dass Nina Frau Gladenberg das Foto des verkohlten Leichnams zeigen könnte. Doch nichts dergleichen. Das Ganze war mehr eine Geste.
„Frau Gladenberg, Sie haben das Video, das Ihr Sohn heute Morgen hochgeladen hat, selbst gesehen und befürchten, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Glauben Sie da nicht, dass es für die Polizei besser ist, zu verstehen, wie Ihr Junge tickt, bevor wir die Stecknadel im Heuhaufen suchen? Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Ihren Sohn zu finden. Gerade sind über einhundert Beamte der Bereitschaftspolizei sowie die Feuerwehr dabei, nach ihm zu suchen. Dieses Video … das hat doch offensichtlich etwas mit der Band zu tun, oder?“, fragte Nina, schien aber darauf gar keine Antwort zu erwarten, da sie nun damit begann, mit ihrem Telefon die Fotos an den Wänden abzufotografieren.
Frau Gladenberg schluckte, nickte kurz und wandte sich dann ab, um zu gehen.
„Ach, Frau Gladenberg“, fiel Heike noch etwas Wichtiges ein.
„Ja?“
„Wir bräuchten noch für einen etwaigen DNA-Abgleich die Zahnbürste Ihres Sohnes.“
Frau Gladenberg sah Heike irritiert an.
„Warum, weshalb? Das verstehe ich jetzt nicht. So etwas brauchen Sie doch nur, wenn …“ Sie schluckte. Heike sah zu Nina. Vermutlich einen Moment zu lange, sodass Frau Gladenberg sichtlich ein Verdacht kam.
„Was haben Sie gefunden? Was verheimlichen Sie mir?“ Ihre Stimme schien fast zu ersticken.
„Beruhigen Sie sich bitte, Frau Gladenberg. Noch ist nichts sicher“, ergriff Nina das Wort.
„Was haben Sie gefunden? Ist er …?“
„Wir wissen es nicht, Frau Gladenberg. Wir haben heute Morgen zwar einen Leichnam in der Gegend gefunden, in der sich Ihr Sohn gestern aufgehalten hat, glauben aber derzeit nicht, dass es sich um ihn handelt“, log Nina.
Heike bemerkte, wie die Mutter des Jungen zu zittern begann und nach der Türklinke griff.
„Ihr Sohn hat das Video gegen sieben Uhr heute Morgen gepostet. Der Tote wurde aber bereits über eine Stunde vorher gefunden. Rein rechnerisch passt das nicht“, erklärte Nina weiter, obwohl dies nicht der Wahrheit entsprach. Tatsächlich war das Video um fünf Uhr zweiundfünfzig hochgeladen worden. Vermutlich von Fabrices Mobiltelefon. Doktor Wagner hatte vorhin den Todeszeitpunkt auf fünf Uhr morgens plus/minus eine Stunde geschätzt. Das Feuer war um exakt sechs Uhr zweiundvierzig gemeldet worden.
Frau Gladenberg schien den letzten Satz von Ninas Notlüge jedoch schon nicht mehr wahrzunehmen. Ein erstickter Schrei, dann rutschte sie am Türstock hinunter zu Boden. Nina war sofort bei ihr, während Heike die Nummer des Notarztes wählte. Jetzt war genau das eingetreten, was sie unbedingt hatten vermeiden wollen.
Sarika stoppte das Cabriolet direkt an der Zufahrt zum Tüschebachsweiher, sprang hektisch aus dem Wagen und übergab sich über die Leitplanke. Die Bilder, die Gedanken an das, was Nina ihr eben im Vertrauen gesagt hatte, fraßen sich gerade in ihre Eingeweide. Fabrice war vermutlich tot. Verbrannt auf einem Scheiterhaufen an dieser Kapelle oberhalb von Friesenhagen. Die Polizei ging derzeit von einem Gewaltverbrechen aus. Die Möglichkeit, dass er sich selbst angezündet haben könnte, schloss Nina aus. Warum dies so war, wusste Sarika nicht, aber Nina würde vermutlich ihre Gründe haben. Klar, die durfte auch Sarika nicht alles erzählen, was die Polizei ermittelte. Irgendwie war sie ja vermutlich in das Ganze auch involviert. Immerhin hatte Fabrice in seinem Video bei Facebook ihren und die Namen der anderen Bandmitglieder genannt. Verdammt … wer tat so etwas Abscheuliches? Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Vielleicht schlief sie ja noch und alles war nur ein blöder Traum. Wobei … nein, so schlecht und mies konnte es ihr noch nicht mal in einem Traum gehen.
Nach