Die Tote von der Maiwoche. Alida Leimbach
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Читать онлайн книгу Die Tote von der Maiwoche - Alida Leimbach страница 3
»Was hast du erwartet, heute ist Eröffnung, da steppt der Bär!«, erwiderte er, während er sie mechanisch streichelte. »Das wird noch ordentlich rundgehen in den nächsten zehn Tagen. Letztes Jahr kamen fast 900.000 Besucher zur Maiwoche. Ich bin froh, dass ich mein Hotel rechtzeitig gebucht habe. Seit Wochen ist kein Bett mehr in Osnabrück zu bekommen, besonders in der Nähe der Festmeile.«
»Das glaub ich. Sonst hättest du auch pendeln können, nach Rheine ist es ja nicht wirklich weit.«
»Gut, aber es ist schöner, dicht dran zu sein. Ich genieße das sehr«, raunte er in ihr Ohr. »Wenn wir übermorgen am Nikolaiort spielen, hoffe ich, dass Katharina immer noch krank ist. Da bin ich ehrlich, auch wenn es etwas gemein klingt. Ich mag im Moment keine Auseinandersetzungen mit ihr. Hat Zeit bis nach der Maiwoche. Der Zufall wollte es, dass du endlich deine Chance bekommst. Du hast Katha würdig ersetzt, Engel. Ganz großes Kino!« Erneut küsste er ihr Haar.
»Danke, die anderen sind da anscheinend anderer Meinung.«
Er seufzte. »Neider gibt es immer, das ist leider so. Damit musst du klarkommen. Sei stolz auf dich und genieße deinen Erfolg. Du bist einfach besser als Katharina. Bald bist du die Nummer eins der Blue Box und bekommst ihren Platz. Du wirst dann unsere Frontfrau. Mir egal, was die anderen dazu sagen. Ich trage schließlich die Verantwortung.«
»Und Katharina? Du kannst sie nicht einfach rauswerfen! Wie komme ich mir denn vor? Ich kann doch nicht meine Karriere auf ihrem Leid aufbauen. Ich will Katha nicht den Platz wegnehmen. Sie tut mir leid.«
Nachdenklich löste er sich von ihr und betrachtete sie. »Schau mal, wäre sie nicht krank geworden, hätte sie den Applaus bekommen und nicht du. Vergiss nicht, wie lange wir darauf hingearbeitet haben! Jetzt kann keiner mehr sagen, Jessica Wagner wäre nur schmückendes Beiwerk. Das war deine Chance, und du hast sie genutzt!«
»Ich kann mich nicht richtig freuen, solange es Katha schlecht geht und mir die anderen den Erfolg nicht gönnen.«
Er runzelte die Stirn. »Von wem sprichst du?«
»Das weißt du genau.«
»Sag es mir.«
Sie zögerte einen Moment. »Alle. Jürgen und Clarissa. Und natürlich Katharina und Max.«
Er winkte ab. »Du machst dich verrückt. Katharina hat ihre Chance gehabt, aber ihre besten Zeiten sind vorbei. Ihre Stimme trägt nicht mehr, sie sieht nicht mehr ganz so gut aus wie früher. Sie muss damit fertigwerden, dass jetzt für sie der Hammer fällt. Ich schicke sie in Rente. Jeder Mensch ist ersetzbar, das ist leider Fakt. Irgendwann ist Schluss. Das ist das Business, das läuft überall so. Man muss anpassungsfähig bleiben, sonst laufen einem auf Dauer die Fans weg. Und neue kommen nicht hinzu, weil unsere Band langsam überaltert. Manchmal muss man einfach Entscheidungen treffen, auch wenn sie im ersten Moment nicht schmecken.«
»Und irgendwann bin ich dann weg vom Fenster«, sagte Jessica nachdenklich.
»Quatsch, irgendwann ist nicht heute. Heute bist du gut. Sogar saugut, um es auf den Punkt zu bringen. Und jetzt wird gefeiert!« Er nahm ihren Arm, um sie mitzuziehen.
Sie stemmte sich dagegen. »Nein, Carsten, sei mir bitte nicht böse, aber ich komme nicht mit.«
Er konnte seine Unzufriedenheit nicht verbergen. »Was soll das heißen, du kommst nicht mit?«
»Mir ist nicht danach.«
Zwischen seinen Augen bildete sich eine Furche. »Willst du mich strafen, weil ich mit dir Schluss gemacht hab? Ist es das?«
Sie errötete. »Nein, ist schon okay. Das ist es nicht.«
Er sah sie eindringlich an und redete ruhig auf sie ein. »Du musst dich entscheiden, zu wem du gehören willst, Jessica, zu den Gewinnern oder zu den Verlierern. Gewinner glauben an sich, während Verlierer nur auf andere schauen und aus Angst, ihnen nicht das Wasser reichen zu können, den Kopf in den Sand stecken. Willst du das? Aufgeben? Ist es das, was du willst? Zeig ihnen, dass du dazu gehörst und sie ab heute mit dir rechnen müssen!«
Plötzlich verdüsterte sich ihre Miene. »Sie war da, oder? Ich meine, ich hätte sie im Publikum gesehen, rechts vor der Bühne.«
Er steckte die Hände in die Jeanstaschen und stieß die Luft aus. »Ja, du hast recht. Sie war da.«
»Hast du ihren Gesichtsausdruck gesehen?«
Er seufzte. »Jessi, hör mir zu, wisch das alles beiseite. Ich mache mir manchmal Sorgen um dich, weil du so sensibel bist und leicht Stimmungen von anderen aufnimmst. Das ist nicht gut. Lass dich nicht runterziehen, hm? Vor allem nicht von ihr. Sie muss allein damit fertigwerden. Es ist ihre Sache. Sie ist erwachsen und schafft das. Erfolg kann man nicht im Laden kaufen, nach dem Motto: ›Hey, gib mir mal eine Portion Erfolg für drei Euro!‹ Nee, so läuft das nicht. Vor allem nicht in diesem Business.«
»Ich weiß, aber es ist ein verdammt blödes Gefühl.«
»Denk dran, was ich dir gesagt habe. Denk positiv. Denk nur an dich. Jessi first. Sonst geht die Rolltreppe wieder abwärts, und das willst du doch nicht. Ich will dich oben sehen, Jessi, ganz oben, da gehörst du hin!«
Sie sah an ihm vorbei. »Ich glaube, ich kann das nicht, Carsten. Ich habe Angst.«
»Oh doch, das kannst du. Das musst du sogar. Ich verlange es von dir, schließlich hab ich eine Menge Kohle in dich gesteckt. Ich habe viel in dich investiert, vergiss das nicht, nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Herzblut. Ich will, dass sich das auszahlt! Du lässt mich nicht im Stich, Jessi. Du ziehst das durch. Und was die Fehler anbelangt, bleib cool. Ein kluger Mann hat mal gesagt, ich glaube, es war Dietrich Bonhoeffer: ›Der größte Fehler, den man machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.‹ Und jetzt wird gefeiert! Wir wollen noch ein paar Bier zischen. Und ich will dich dabeihaben.« Wieder versuchte er, sie mitzuziehen.
Sie machte sich steif. »Heute nicht, Carsten. Die letzten Tage waren extrem anstrengend, die Proben und so, ich bin total durch den Wind und will früh schlafen gehen.«
»Schlafen gehen?« Er streifte sie mit einem Blick der Verachtung. »Du kannst genug schlafen, wenn du tot bist. Wir feiern heute Abend vor allem dich, Prinzessin! Deinen Aufstieg zur Frontsängerin! Sei nicht so undankbar! Ein Bierchen, mehr nicht. Danach schläfst du wie ein Baby. Wir treffen uns ja morgen erst um zehn.«
Sie winkte ab. »Ich mach mich vom Acker, ehrlich. Ich bin fertig. Da hat keiner was von. Außerdem will ich jetzt nicht mit den anderen reden, will mich nicht rechtfertigen müssen. Hab keine Lust auf ihre mürrischen Gesichter. Die ziehen mich runter. Wir sehen uns morgen bei der Probe.«
Carsten setzte eine enttäuschte Miene auf und rückte seinen Hut zurecht. »Okay. Wenn du es dir anders überlegst, kommst du einfach nach. Wir sind am Maibrunnen auf dem Marktplatz, vor der Marienkirche, du weißt schon.«
»Ja, ich weiß.« Jessica schulterte ihre Tasche und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.
Kapitel 2
Samstag, 6. Mai
Der Lieneschweg gehörte zu den Top-Adressen Osnabrücks. In den goldenen 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten hier betuchte Osnabrücker Beamten- und Unternehmerfamilien