Die Tote von der Maiwoche. Alida Leimbach

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Die Tote von der Maiwoche - Alida Leimbach

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der Jahre aufwendig saniert, reihten sich wie Perlen entlang der begrünten Allee und prägten das Bild einer gehobenen Lebensart. Einige Villen waren zu Mehrfamilienhäusern umgebaut worden, weil die Familien kleiner geworden waren und kein Personal mehr mit im Haus untergebracht werden musste. Die Lage war ideal – nicht weit zu den Einkaufsmeilen Lotter Straße und Innenstadt und ebenfalls nicht weit entfernt vom Naherholungsgebiet Westerberg. Auch das weitläufige Waldgebiet Heger Holz mit dem idyllisch gelegenen Rubbenbruchsee war mit einem etwas längeren Spaziergang zu erreichen.

      Das Villenviertel lag am Samstagmorgen noch verschlafen da, als Else Leinweber bereits ihren Hausputz erledigt hatte. Energisch zog die Mittsiebzigerin die Wohnungstür hinter sich zu. Sie ärgerte sich darüber, dass die Sängerin aus der Erdgeschosswohnung trotz mehrmaliger Aufforderung das Treppenhaus nicht geputzt hatte. Es war schon öfter vorgekommen, dass sich die Nachbarin über Regeln und mündliche Absprachen hinweggesetzt hatte. Else Leinweber war es leid, die Arbeit für die junge, verwöhnte Dame mit zu erledigen. Ihr Hals schwoll an, als sie im Vorbeigehen Wollmäuse in den Ecken und feinen grauen Staub auf dem Geländer bemerkte.

      Sie ordnete ihre bläuliche Lockenfrisur und läutete im Erdgeschoss neben dem Namensschild mit der Aufschrift »Jessica Wagner«. Die Tür war nicht richtig ins Schloss gezogen worden. Else Leinweber klingelte ein zweites Mal und ging einfach hinein. Ein eigentümlicher Geruch strömte aus der Wohnung. Die Bewohnerin musste da sein, denn das Radio lief.

      »Hallo? Frau Wagner?« Mit einem beklemmenden Gefühl blieb Else Leinweber im Flur stehen. Es roch nicht nur ungelüftet, sondern auch süßlich, metallisch. Sie kannte das aus dem Pflegeheim, wenn sie ihren dementen Bruder dort besuchte. Ein unangenehmes Geruchspotpourri aus Urin, Kot, Blut, Reinigungs- und Desinfektionsmittel und billigem Eau de Toilette, das aus Duftspendern aus den Ecken kam, im verzweifelten Versuch, für ein angenehmes Raumklima zu sorgen. Else Leinweber runzelte die Stirn. War die Nachbarin in der Nacht etwa volltrunken nach Hause gekommen? »Frau Wagner?« Langsam tastete sie sich vor, sie kannte sich ja aus. Die Wohnung hatte den gleichen Schnitt wie ihre eigene. Oft genug war sie hier gewesen, um der Nachbarin etwas zu bringen, was der Bote bei ihr abgegeben hatte. Die jungen Leute bestellten ja nur noch im Internet. Sogar Essen ließ sich die kaufsüchtige Person anliefern. Oft bekam sie Kartons einer bekannten Supermarktkette. Die Hälfte des Inhalts landete hinterher in den Mülleimern hinterm Haus. Und Kleidung, jede Menge Kleidung, fast jede Woche bestellte sie was im Internet! Alles wurde anprobiert und dann wieder zurückgeschickt. Else Leinweber beobachtete oft durchs Küchenfenster, wie ihre Nachbarin mit einem Paket unterm Arm das Haus verließ. Kein Wunder, dass die schönen alten Geschäfte in Osnabrück langsam ausstarben!

      Die alte Dame steuerte auf die Küche zu. Links davon war das Schlafzimmer, daneben das Bad und das Gäste-WC, und rechts vom Eingang das Wohnzimmer.

      In der Küche lief das Radio, ziemlich laut sogar, amerikanische Popmusik, doch es war niemand zu sehen. Auf dem Tisch standen Essensreste, ein Pappteller mit den Resten einer Currywurst, auf dem die bräunliche Soße bereits unappetitlich verdickt war, und labbrige, vollgesogene Pommes frites. Daneben lag eine eingedrückte Büchse Cola.

      Die stechenden Ausdünstungen kamen aus dem Wohnzimmer. Bereits an der Türschwelle blieb Else Leinweber stehen und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.

      Da war sie! Jessica Wagner lag auf dem Bauch in einer Blutlache. Sie musste sich eingenässt und eingekotet haben.

      Die alte Dame griff sich an die Brust. Ein plötzlich einsetzendes heftiges Schwindelgefühl erfasste sie und wollte sie zu Boden reißen. Gerade rechtzeitig konnte sie sich an einer Kommode abstützen. Der Schweiß trat ihr aus allen Poren und ihr Herz begann zu stechen und zu rasen. Um Hilfe schreiend schwankte sie aus der Wohnung ins Treppenhaus. Später hätte sie nicht sagen können, wie sie ihre arthritischen Gelenke plötzlich so schnell und schmerzlos hatte bewegen können. Sie spürte ihre Beine nicht mehr, als sie die Holztreppe hinaufpolterte, ihre Wohnungstür aufschloss und dann hastig hinter sich zuzog, um sie doppelt zu verriegeln. Erschöpft riss sie das Telefon an sich und wählte die 110.

      *

      »Osna 4,23, Meier«, knödelte das Funkgerät im Rettungswagen der Johanniter. »Ihr Standort?«

      »Knappheide hier, Lotter Straße, Höhe Emma.«

      »Osna 4,23, Meier, RTW zum Lieneschweg, leblose Person, Notarzt rückt nach.«

      Der Fahrer des Rettungswagens vergewisserte sich, die Hausnummer richtig verstanden zu haben und brummelte dann: »Verstanden.« Sofort schaltete er das Martinshorn ein und gab Gas. Glücklicherweise verhielten sich die Autofahrer heute vorbildlich, rechts und links wichen die Fahrzeuge aus, es war ohnehin noch nicht viel los, sodass er in weniger als fünf Minuten das Ziel am Lieneschweg erreichte.

      Er traf fast gleichzeitig mit dem Notarztwagen und zwei Streifenwagen am Unglücksort ein.

      Aus dem Haus kam eine kleine, ältere Frau mit blauen Haaren, gräulicher Gesichtsfarbe und irrem Blick gelaufen. »Kommen Sie!«, schrie sie. »Kommen Sie schnell, die Frau Wagner ist tot. Die Frau Wagner von unten! Eine ganz junge Frau! Tot! Alles voller Blut! Sie wurde ermordet! Erstochen! Auf dem Teppich! Alles voller Blut, ganz viel Blut!«, schrie sie panisch.

      Ein junger Polizeibeamter kümmerte sich um sie und forderte über Funk einen Notfallseelsorger an.

      Der Sanitäter eilte im Laufschritt mit seinem Notfallkoffer an ihnen vorbei, gefolgt von zwei Kollegen und dem Notarzt. »Wo müssen wir hin?«

      »Erdgeschoss, links, die Tür steht offen«, rief jemand. Dort angekommen, reichten wenige Sekunden, um festzustellen, dass es nichts mehr zu tun gab. Die Leiche wies mehrere Stichwunden am Rücken auf. Sie war schon kalt. Als der Sanitäter die Bluse der jungen Frau hochzog, waren erste Totenflecken sichtbar. Er nickte dem Notarzt zu, der trotzdem ordnungsgemäß den Puls nahm und sein Stethoskop herauszog. »Das ist was für K1«, sagte er mit hochrotem Kopf. Über Funk forderte er die Kriminalpolizei an.

      *

      Das rot-weiß gestreifte Flatterband der Polizei störte die Idylle am Lieneschweg unweit der Musikschule, die früher mal eine Frauenklinik gewesen war. Vor einem charmanten Zweifamilienhaus mit Erkern, Giebeln und Mansardendach standen drei Polizeiwagen. Autofahrer fuhren noch langsamer als die vorgeschriebenen 30 Kilometer pro Stunde und Fußgänger blieben stehen, um zu sehen, was da los war.

      Ein uniformierter Polizeibeamter passte am Gartentor auf, dass kein Unbefugter ins Haus gelangte.

      Birthe Schöndorf von der Osnabrücker Mordkommission erreichte den Tatort am Samstagvormittag, etwa eine halbe Stunde nach den Kollegen der Schutzpolizei.

      »Ich übernehme jetzt die Ermittlungsleitung«, rief die junge, blonde Frau den Beamten im Eingangsbereich zu. »Gibt es Zeugen? Haben Sie bereits Bürger aus der Nachbarschaft befragt?«

      »Von den Anwohnern der Nachbarhäuser hat offenbar niemand etwas mitbekommen. Kollegen sind unterwegs, um in den Häusern gegenüber nachzufragen. Am meisten kann uns wohl die ältere Dame sagen, die in der oberen Etage wohnt, aber die steht unter Schock, befindet sich gerade im RTW und ist zur Stunde nicht vernehmungsfähig.«

      Die hochgewachsene Mittdreißigerin begrüßte ihre Kollegen von der Tatortgruppe. Einer war damit beschäftigt, mit Pinsel und Ruß an der Haustür Spuren zu nehmen. Ein anderer tütete gerade mithilfe einer Pinzette ein dunkles Haar in einen durchsichtigen Beutel ein.

      »Gibt es Anzeichen für einen Einbruch?«

      »Nein. Das Opfer muss dem Täter die Tür geöffnet haben.«

      Birthe

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