Die Tote von der Maiwoche. Alida Leimbach
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Als das Konzert zu Ende war, habe ich auf sie gewartet. Eigentlich wollte ich nichts Bestimmtes von ihr, einfach nur in ihrer Nähe sein, mit ihr reden, ihr zu dem tollen Auftritt gratulieren. Aber sie hat mir wieder mal die kalte Schulter gezeigt. Kenn ich ja schon. Sie sei müde, hat sie gesagt, habe keine Lust mehr und wolle schnell nach Hause, aber ich habe ihr das nicht abgenommen. Sie sah überhaupt nicht müde aus. Hat mich einfach abblitzen lassen. Richtig blöd bin ich mir vorgekommen. Ein Autogramm hätte sie mir wenigstens geben können, irgendetwas, das ich mit nach Hause hätte nehmen können. Etwas von ihr eben. Ich war sehr enttäuscht, wollte mich aber nicht so einfach abschütteln lassen.
Sie ging zu den Bussen am Neumarkt, und ich bin ihr gefolgt. Ich glaube, sie hat das nicht mitbekommen, jedenfalls hat sie sich kein einziges Mal umgedreht. Es war ja auch so viel los auf der Maiwoche, dass es seltsam gewesen wäre, wenn sie sich verfolgt gefühlt hätte. Wahrscheinlich wusste sie, wie die Busse abends fahren, denn lange warten mussten wir nicht. Nach ein paar Minuten kam die 36 in Richtung Eversburg. Sie ist vorne eingestiegen, hat sich gleich hingesetzt, während ich schnell nach hinten durchging. Ich glaube, sie hat das nicht mitbekommen, denn der Bus war knackvoll. Viele Leute mussten stehen.
Auf der Fahrt ist mir vieles durch den Kopf gegangen. Ich habe mich wieder mal gefragt, woher die Ungerechtigkeit in der Welt kommt. Manche Menschen werden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Sie haben von Anfang an gute Karten, waren ein Wunschkind, haben Eltern und Großeltern, die sie vom ersten Atemzug an lieben und verwöhnen, die alles für sie tun, ihr Leben für sie geben würden. Hauptsache, dem Kind geht es gut, Hauptsache, es hat alles, was es braucht, und noch viel, viel mehr. Wer hat, bekommt noch mehr. Das ist die große Ungerechtigkeit in der Welt. Andere hingegen müssen mit fast nichts auskommen. Keiner will sie, sie sind ungeliebt, von Geburt an, und keiner kümmert sich richtig darum. Ihnen fehlt alles, was ein gutes Leben ausmacht: Liebe, Wärme, Geborgenheit, körperliche und geistige Nahrung. Es fehlen einfach jene Startbedingungen, die ein glückliches, gelingendes Leben ausmachen. Sie lernen von Anfang an zu verzichten und zu entbehren, und kein Jugendamt der Welt schert sich darum. Warum ist das so? Warum werden Menschen geboren, um glücklich zu sein, und andere, um unglücklich zu sein? Wer ist schuld an dieser Ungerechtigkeit? Warum können nicht alle Menschen die gleichen Startbedingungen haben? Dann wäre die Welt viel reicher, und alle würden viel freundlicher miteinander umgehen. Ich suche ständig nach Antworten. Den Politikern kann man nicht die Schuld geben, so viel habe ich inzwischen gelernt. Ihre Aufgabe ist es nicht, es allen recht zu machen. Sie sind nicht für unser Glück verantwortlich. Sie werden es niemals erreichen, jede Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und für Gleichheit zu sorgen. Und es wäre fatal, aus lauter Unzufriedenheit den Falschen hinterherzulaufen. Maren sagt, ich soll aufhören, so viel zu grübeln, das würde nichts bringen und mich fertigmachen, es würde sowieso nichts ändern, aber das ist leicht gesagt. Wenn diese Gedanken kommen, kann ich nichts dagegen tun. Sie überrollen mich und ich fühle mich dann noch schlechter, noch minderwertiger als sonst. Ich muss abwarten, bis sie von selbst aufhören. Übrigens stimmt es nicht, dass man nichts dagegen tun kann, man kann. Das weiß ich aus Erfahrung. Zumindest kurzfristig geht es einem dann besser. Aber was ich mache, ist immer nur falsch.
*
Tobecke wickelte ein Kaugummi aus dem Papier und steckte ihn sich in den Mund.
Birthe sah ihm dabei zu. »Machen wir weiter, Herr Tobecke«, sagte sie erschöpft. »Erinnern Sie sich an den gestrigen Auftritt. Wie hat Jessica Wagner auf Sie gewirkt?«
Carsten Tobecke knetete seinen Hut zwischen den Händen und kaute vor sich hin. »Sie war … wie wir alle … glücklich. Alles lief rund. Keine einzige Panne. Wir waren alle happy und sind feiern gegangen, leider, wie gesagt, ohne Jessi.«
»Kein Streit im Vorfeld?«
Mit einem fast betrübten Ausdruck schüttelte Carsten Tobecke den Kopf. »Nein, absolut nicht.«
»Was war vorher? Ich könnte mir denken, dass so ein Auftritt recht anstrengend ist. Lange Proben, man muss sich abstimmen, verbringt viel Zeit miteinander, da passiert es leicht, dass es zu Meinungsverschiedenheiten kommt, zu einem Streit, dass manchmal sogar die Fetzen fliegen.«
Tobecke wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Kann passieren, wir sind ja alle keine Heiligen. Aber Jessi hatte keine Feinde. Die mochte jeder.«
»Es müssen nicht gleich Feinde sein, manchmal entsteht ein Streit aus dem Nichts. Da reicht es schon mal, dass man schlecht geschlafen hat und gestresst ist. Und bei temperamentvollen Gemütern schaukelt er sich schon mal hoch. Da können Kleinigkeiten, die einen normalerweise nicht aufregen, zu einem Riesenstreit führen.« Birthe merkte an seiner Reaktion, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, während Tobecke versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Jessi gehörte noch nicht richtig zur Band«, fuhr er fort. »Sie hat gestern zum ersten Mal vorne gesungen und dann gleich solo. Das war ihr Einstand sozusagen. Sie hat ihre Sache wirklich gut gemacht. Wir waren alle sehr zufrieden. Richtig happy waren wir.«
»Was ist mit der kranken Sängerin? War sie auch happy, dass Jessica Wagner für sie eingesprungen ist?«
Überrascht hob er den Kopf. Mit einigem Zögern setzte er zur Antwort an. »Ich denke schon. Wenn man ausfällt, gibt es Ersatz. Das ist ganz normal. In jeder Branche ist das der Fall. Bei Ihnen doch auch, oder nicht? Oder bringen Sie gleich Ihren Kollegen um, wenn er Sie im Krankheitsfall ersetzt?« Er machte ein schmatzendes Geräusch mit seinem Kaugummi.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich die kranke Sängerin verdächtige. Wie heißt sie überhaupt?«
»Katharina Jütting.«
»Könnte ich einen Grund haben, Frau Jütting zu verdächtigen?«
Carsten Tobecke sah zur Wagendecke und machte eine Blase mit dem Kaugummi. »Das habe ich nicht behauptet. Aber beste Freundinnen waren sie sicher nicht.«
»Vorhin haben Sie gesagt, es hätte keiner was gegen Jessica Wagner gehabt.«
»Nein, das nicht«, meinte er ausweichend. »Das hatte ja auch keiner. Trotzdem waren Katharina und Jessica nicht unbedingt Freundinnen. Das ist etwas anderes.«
»Hat Frau Jütting sich mal abwertend über Jessica Wagner geäußert?«
»Nicht, dass ich mich erinnere, nein. Es ist nur ein Gefühl, mehr nicht.«
»Meinten Sie vorhin Frau Jütting, als Sie sagten, jetzt hätte sie erreicht, was sie wollte?«
»Das weiß ich nicht mehr, vielleicht. Ich habe an keine konkrete Person gedacht.«
»Trotzdem ist es Ihnen spontan herausgerutscht.«
»Das passiert mir häufig. Ich denke nicht immer, bevor ich spreche. Das wird mir oft zum Verhängnis. Daran sind schon viele Beziehungen gescheitert.«
»Gerade habe ich das Gefühl, dass Sie die kranke Sängerin der Tat bezichtigen.«
»Glauben Sie, was Sie wollen.« Er streckte seinen Rücken durch und setzte seinen Hut auf.
»Wie lange kannten Sie sich? Sie und Jessica Wagner?«
»Seit ungefähr zehn Monaten.