Der Fortschritt dieses Sturms. Andreas Malm

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Der Fortschritt dieses Sturms - Andreas Malm

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an der Fälschung einer Korrespondenz mit renommierten Autor:innen. Eine Freundin bittet ihn, Vater ihres Kindes zu werden, jedoch nicht mittels Geschlechtsverkehr. Vielmehr nimmt er den unwegsameren Prozess auf sich, schaut Pornos, masturbiert und händigt sein Sperma zur künstlichen Befruchtung aus. Ihm schwirrt der Kopf aufgrund einer 24-stündigen Installation mit dem Titel The Clock, einer Montage von Clips aus Tausenden von Filmen, kombiniert zu einer durchgehenden Sequenz, sodass der Einschlag des Blitzes, der in Zurück in die Zukunft um 22:04 Uhr in Szene gesetzt wurde, exakt zum Zeitpunkt der Echtzeit des Publikums abgespielt wird, und immer so weiter, durch Nacht und durch Tag, »den endgültigen Einbruch der fiktiven Zeit in die Echtzeit«5 vorführend.

      Und unterdessen befindet sich Lerners New York im Belagerungszustand. Der Roman setzt mit dem Herannahen eines »ungewöhnlich große[n] zyklonische[n] Windsystem[s]« ein und endet mit der kataklystischen Landung des nächsten.

      Überall entlang der Küste waren Häuser zerstört und überflutet worden, bald würde ein Stadtviertel in Queens brennen. Rettungskräfte fischten die Leichen derer heraus, die im plötzlich ansteigenden Wasser ertrunken waren; wer wusste, wie viele Obdachlose gestorben waren?

      Ein Argument unwiderlegbarer Realität durchdringt die Erzählung und lässt den Protagonisten in einen Strom höchst spürbarer Zeit eintauchen: Er blickt zurück auf »[s]echs Jahre spazieren gehen auf einem sich erwärmenden Planeten«. Als der Union Square »schwer [wird] von Wasser in seinem gasförmigen Zustand, einer für New York untypischen, tropischen Feuchtigkeit, einem ominösen Medium«, wird die gewöhnliche Zeit stillgestellt, und wie »die überwundene Zeit selbst« fällt die Luft »vom Himmel«.6 Der Protagonist versinkt in einer Obsession mit der Zeit, als er über das nachsinnt, was er für den Quell all dieser Stürme hält: den Klimawandel.

      Jüngste Bemühungen in »Ereignisattribution« stützen diese Annahme. Jeder einzelne Sturm ist das einmalige Resultat eines chaotischen Gemischs von Wetterkomponenten, jedoch modifiziert die globale Erwärmung die Basis, von der aus diese gebildet werden. »Das Klima verändert sich: Wir haben eine neue Normalität«, lässt ein Forschungsteam wissen: »Die Umwelt, innerhalb derer sich all diese Wetterereignisse ereignen, ist nicht mehr das, was sie einmal war. Alle Stürme sind ausnahmslos verschieden.« Dementsprechend ritt der Supersturm Sandy, der im Oktober 2012 weite Teile New Yorks erschütterte, auf Meeresspiegeln voran, die um etwa 19 Zentimeter erhöht waren, während hohe Meeresoberflächentemperaturen außergewöhnliche Mengen an Wasserdampf als Munition für die Wolken in die Luft beförderten.7 Ähnliche Faktoren verstärkten den Supertaifun Haiyan – der bis dato stärkste je aufgezeichnete und auf Land treffende Sturm –, als er im November 2013 durch die Philippinen fegte, mehr als 6000 Menschen tötete und wochenlang Leichen im Meer auf und ab treiben ließ.8 »Kein singuläres Ereignis lässt sich auf den Klimawandel zurückführen«, lautet ein gebetsmühlenartiger Refrain in den Medien, aber ein Beobachtungs- und Modellierungsschub bekräftigt mittlerweile die weitverbreitete Annahme, dass dieses ganze extreme Wetter ohne einen solchen Wandel nicht eingetreten wäre. Individuelle Ereignisse können sehr wohl dem Temperaturanstieg zugerechnet werden, sogar mit jährlich steigender wissenschaftlicher Genauigkeit. Schon als sich die Erde um gerade mal 0,85 Grad Celsius erwärmt hatte, konnten drei von vier Aufzeichnungen extremer Hitze an Land aus dem allgemeinen Trend abgeleitet werden, und wenn die Temperaturen weiterhin steigen, wird der Klimawandel einen noch größeren Anteil der Kausalität für sich in Anspruch nehmen.9 Er wird geradezu zur universalen Erfahrung: Ein Großteil der menschlichen Bevölkerung ist in den letzten zehn Jahren einem abnormal warmen Wetter ausgesetzt gewesen.10 Doch das von Menschen verursachte Wetter ist niemals ein Produkt der Gegenwart.

      Die globale Erwärmung ist das Resultat von Handlungen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Jedes CO2-Molekül über dem vorindustriellen Niveau befindet sich in der Atmosphäre, gerade weil die Menschen im Laufe der Zeit Bäume und andere Pflanzen, allem voran aber fossile Brennstoffe verbrannt haben. War der Kohlenstoff zu Beginn noch in der Kohle, waren Öl und Erdgas noch innerhalb der Erdkruste eingeschlossen, wurden diese Reserven schließlich irgendwann entdeckt und erschlossen und die Brennstoffe an die Feuerstellen gekarrt, von wo aus der Kohlenstoff als CO2 freigesetzt wurde. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt beschreibt der Wärmeüberschuss im Erdsystem somit die Summe all dieser historischen Feuer, der kumulativen Emissionen, der aufeinandergeschichteten CO2-Ausstöße: Der Sturm des Klimawandels bezieht seine Kraft streng genommen aus unzähligen Verbrennungen der letzten beiden Jahrhunderte. Wir können niemals in der Hitze des Moments sein, nur in der Hitze der fortwährenden Vergangenheit. Insofern extreme Wetterereignisse von basaler Erwärmung geprägt werden, handelt es sich bei ihnen um das Vermächtnis dessen, was Menschen getan haben, um die jüngsten Triebe einer schädlichen Saat – in der Tat, die Luft geht schwanger mit der Zeit.11

      Als Walter Benjamin in der Zwischenkriegszeit die Städte Europas durchstreifte, notierte er flüchtig einen Wegweiser für weitere Untersuchungen: »Über die Doppelbedeutung von ›temps‹ im Französischen«: temps wie Wetter und Zeit.12 Höchstwahrscheinlich wurzelt die semantische Überlappung in der ursprünglichen Erfahrung des Jahreszeitenzyklus, der den Arbeitskalender früherer Zeiten vorgab, als Sonne, Wolken, Regen und Schnee den Rhythmus des Jagens, Säens, Erntens und vieler anderer Aktivitäten bestimmten. Auf diese Zeit folgte eine Epoche, in der (einige) Menschen lebten, als wären sie vom Wetter abgeschnitten – »unsere Jahreszeiten«, vermerkt Jameson, »gehören der postnatürlichen und postastronomischen Fernseh- und Medienvielfalt an« –, doch allmählich und zugleich wie aus dem Nichts sickert die ursprüngliche Bedeutung wieder in den Alltag ein.13 Dieses Mal jedoch präsentiert sich das Wetter kaum mehr als etwas, wonach die Uhr zu stellen ist. Es neigt vielmehr dazu, Zeitpläne und Routinen kraft des Gewichts, welches ihm aus der Vergangenheit anhaftet, durcheinanderzuwirbeln. Als solch ein Unwetter [tempest] ist ihm eine verquere, multiple Zeitlichkeit zu eigen, wie sich auch Lerners Protagonist eingestehen muss, als er während eines oktoberlichen Spaziergangs zwanghaft von Tagen »unzeitgemäßer Wärme« berichtet:

      Die ungewöhnliche Wärme kam einem sommerlich vor, doch das Licht war eindeutig herbstlich, und die Vermischung der Jahreszeiten spiegelte sich in der Kleidung um sie herum wieder […]: zwei zu einem einzigen Bild zusammengefallene Zeitlichkeiten.14

      Noch angemessener mag sein Gefühl sein, »er wäre in der Zeit zurückgereist oder verschiedene Zeiten hätten sich übereinandergelegt, Zeitlichkeiten miteinander verflochten«, denn jedwede Folge des Klimawandels ist, physikalisch betrachtet, eine Kommunikation mit einer menschlichen Vergangenheit.15 Doch greifen die Verbindungen nicht bloß auf Vergangenes zurück. Der Schatten des anthropogenen CO2 wirft sich gleichermaßen auf das Absehbare und erstreckt sich bis hinein in die unergründliche Zukunft. Ein Team höchst prominenter Wissenschaftler:innen, das sich mit diesem speziellen Aspekt beschäftigt, weist darauf hin, dass 2100, das Jahr also, in dem die meisten Szenarien und Projektionen abrupt enden – bis 2100 wird es diesen oder jenen Meeresspiegelanstieg geben, diese oder jene extreme Hitze –, keinen wirklich abschließenden Status innehat. Die weitverbreitete Verwendung dieses Bezugspunkts ergibt sich lediglich aus einer computertechnologischen Panne, insofern die ersten Modelle nicht in der Lage waren, Wissenschaftler:innen weiter als bis zu diesem Datum zu führen. Greifbar und bequem ergibt sich daraus, so das Team, die Illusion, die nun in der Schwebe hängende Zukunft würde relativ kurz sein, ein Kopfschmerz für das 21. Jahrhundert, während das Gros des Temperaturanstiegs und praktisch der ganze, durch beliebig vorhandene kumulative Emissionsmengen produzierte Meeresspiegelzuwachs in Wahrheit – sofern es dem Erdsystem überlassen sein wird, die Konsequenzen abzuarbeiten – mindestens die nächsten 10 000 Jahre fortdauern und die Meere unter Umständen auf eine Höhe von rund 50 Metern über dem heutigen Spiegel angestiegen sein werden. Vieles davon kann nach wie vor vermieden werden. Und ebendiese Möglichkeit überfrachtet unseren gegenwärtigen Moment mit Zeit. »Die nächsten Jahrzehnte«, folgert das Team demgemäß, »bieten ein kurzes Zeitfenster, um den großflächigen und potenziell katastrophalen Klimawandel zu mindern, der länger andauern wird als die gesamte bisherige

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