Die neue Medizin der Emotionen. David Servan-Schreiber

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Die neue Medizin der Emotionen - David Servan-Schreiber

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im Kopf auszurechnen: »Ziehen Sie 9 von 1356 ab und dann 9 von jeder Zahl, die Sie dabei erhalten …« Das erledigte ich ohne allzu große Schwierigkeiten, auch wenn es nicht gerade angenehm war, vor der kleinen Gruppe neugieriger Beobachter auf die Probe gestellt zu werden, die dieses System zum selben Zeitpunkt kennen lernten wie ich. Sofort wurde zu meiner großen Überraschung der Kurvenverlauf noch unregelmäßiger und chaotischer, und der durchschnittliche Puls kletterte auf 72. Pro Minute zehn Herzschläge mehr, nur weil ich mit ein paar Zahlen jonglierte! Wie viel Energie das Gehirn doch verschlingt! Oder lag es vielleicht an der Belastung, diese Berechnungen mit lauter Stimme vor einem Publikum durchzuführen?

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      Abbildung 3: Chaos und Kohärenz – Bei Stresszuständen, Angstgefühlen, Depressionen oder Zorn wird der Rhythmus des Pulses ungleichmäßig, »chaotisch «. Wohlbefinden, Mitgefühl und Dankbarkeit führen zu gleichmäßigen Pulsveränderungen, zur »Kohärenz«; der Wechsel zwischen Beschleunigung und Bremsen verläuft gleichmäßig.Kohärenz maximiert in einer gegebenen Zeit die Veränderung, führt zu größerer Variabilität und ist damit gesünder. (Die grafische Darstellung stammt aus dem am Hearth Math Institute in Boulder Creek/Kalifornien entwickelten Computerprogramm »Freeze-Framer«.)

      Die Technikerin erklärte, die Kurve sei entsprechend der Beschleunigung meines Herzschlags immer unregelmäßiger geworden; dies sei eher ein Zeichen von Angst als das einer geistigen Anstrengung. Ich spürte jedoch nichts. Daraufhin forderte sie mich auf, ich solle mich auf den Bereich um mein Herz konzentrieren und mir eine angenehme oder glückliche Empfindung ins Gedächtnis rufen. Das überraschte mich. Normalerweise braucht man sich, um durch Meditation oder Entspannung einen Zustand innerer Ruhe zu erlangen, nichts Schönes vorzustellen, sondern soll nur möglichst an nichts mehr denken. Doch ich tat, worum sie mich gebeten hatte, und binnen weniger Sekunden war auf dem Bildschirm – welche Überraschung! – eine völlig andere Kurve zu sehen: anstelle unregelmäßiger, unvorhersehbarer Zacken sanfte Auf- und Abbewegungen, eine regelmäßige, sanftelegante Welle. Als schwanke mein Herz jetzt friedlich und gleichmäßig zwischen Beschleunigung und Abbremsung hin und her. Mein Herz wollte anscheinend sicherstellen, dass es – wie ein Sportler, der vor einer Übung die Muskeln an- und entspannt – beides kann, und zwar so oft es will … Wie ein Fenster unten auf dem Monitor zeigte, war in meinem Körper anstelle eines hundertprozentigen Chaos ein Zustand von 80 Prozent Kohärenz eingekehrt. Und dazu hatte es offenbar genügt, mich an etwas Angenehmes zu erinnern und auf mein Herz zu konzentrieren!

      Im Verlauf der letzten zehn Jahre ist es gelungen, mit Hilfe von Computerprogrammen wie diesem zwei charakteristische Arten von Herzschlagschwankungen zu beschreiben: Chaos und Kohärenz. Meistens sind es nur mäßige und »chaotische« Schwankungen; Bremsen und Beschleunigen folgen ohne jedes System aufeinander. Ist die Variabilität hingegen ausgeprägt und stark, folgen Brems- und Beschleunigungsphasen schnell und gleichmäßig aufeinander. Dies ergibt eine ebenmäßige Welle, die der Begriff »Kohärenz« des Herzschlags sehr gut veranschaulicht.

      Zwischen der Geburt, bei der die Variabilität am größten ist, und der Zeit des Sterbens – zum Todeszeitpunkt ist sie am niedrigsten – lässt die Veränderlichkeit um etwa drei Prozent pro Jahr nach11; ein Zeichen dafür, dass unser Körper sich immer weniger gut an Veränderungen der physischen und psychischen Konstellation anpassen kann: ein Symbol des Alterns. Die Variabilität wird geringer, da wir die physiologische Bremse – das parasympathische System – nicht trainieren, sodass es nicht mehr unter Spannung steht. Ein Muskel, dessen man sich nicht bedient, verkümmert im Lauf der Jahre. Der Beschleuniger – das sympathische System – hingegen bleibt weiterhin im Einsatz. Nach Jahrzehnten lässt unser Körper sich schließlich mit einem Auto vergleichen, das freie Fahrt hat und beliebig beschleunigen, aber praktisch nicht mehr auf Befehl abbremsen kann.

      Der Rückgang der Herzschlagvariabilität bringt eine Reihe von gesundheitlichen Problemen mit sich, die mit Stress und Altern zusammenhängen: Bluthochdruck, Herzinsuffizienz, Diabetes, Herzinfarkt, plötzlicher Tod und sogar Krebs. Untersuchungen, die dies bestätigen, wurden in Lancet und Circulation (der kardiologischen Fachzeitschrift) veröffentlicht: Sobald es mit der Variabilität vorbei ist, das Herz beinahe nicht mehr auf Gefühle reagiert und vor allem nicht mehr »bremsen« kann, steht der Mensch kurz vor dem Tod.12

      EIN TAG MIT CHARLES

      Charles ist zwar erst vierzig, aber bereits Direktor eines Kaufhauses in Paris. Er beherrscht sein Metier meisterlich und ist schon etliche Male befördert worden. Doch jetzt leidet er seit Monaten unter starkem Herzklopfen. Das beunruhigt ihn sehr, und er hat deswegen bereits etliche Kardiologen aufgesucht. Diese konnten jedoch keinerlei Krankheit diagnostizieren. Mittlerweile ist er so weit, dass er aus Angst vor einem »Herzanfall«, der ihn wieder auf die Notfallstation brächte, den Sport aufgegeben hat und sich selber genau beobachtet, wenn er mit seiner Frau schläft. Seiner Einschätzung nach sind seine Arbeitsbedingungen »völlig normal« und auch »nicht anstrengender als anderswo«. Im Lauf unserer Sitzungen stellt sich jedoch heraus, dass er mit dem Gedanken spielt, seine Stelle – auch wenn sie ungemein prestigeträchtig ist – zu kündigen. Denn der Vorsitzende der Gruppe äußert sich oft geringschätzig und zynisch über ihn. Obwohl Charles schon länger in diesem aggressiven Klima arbeitet, ist er doch nach wie vor verletzlich und leidet unter den spitzen oder übertrieben kritischen Bemerkungen seines Chefs. Zudem setzt sich dessen Zynismus die gesamte Hierarchie hindurch fort, sodass Charles’ Kollegen im Marketing, der Öffentlichkeitsarbeit, der Finanzabteilung sich auch untereinander kühl behandeln und beißende Kommentare übereinander abgeben.

      Auf meinen Rat hin stimmte Charles einer Aufzeichnung seiner Herzrhythmusschwankungen über vierundzwanzig Stunden zu. Um die Ergebnisse auswerten zu können, musste er seine verschiedenen Betätigungen im Lauf des Tages notieren. Die Interpretation der Kurve war nicht sonderlich schwierig. Um elf Uhr vormittags suchte er an seinem Schreibtisch ruhig, konzentriert und zügig Fotos für einen Katalog aus. Sein Puls war normal kohärent. Mittags tauchte sein Herz mit einer Beschleunigung um zwölf Pulsschläge pro Minute schlagartig ins Chaos ein. Zu genau diesem Zeitpunkt ging er zum Büro seines Chefs. Eine Minute später schlug sein Herz noch schneller, das Chaos war vollkommen. Dieser Zustand hielt zwei Stunden an: Er hatte sich sagen lassen müssen, sein Entwurf zur Entwicklungsstrategie, an dem er wochenlang gearbeitet hatte, tauge nichts, und es sei besser, wenn jemand anders sich darum kümmere; offenbar sei er selber nicht in der Lage, ihn klarer zu strukturieren. Beim Verlassen des Chefbüros hatte Charles einen seiner typischen Anfälle von Herzklopfen, so schlimm, dass er hinausgehen musste, um sich zu beruhigen.

      Nachmittags fand eine Sitzung statt. Die Aufzeichnung zeigte erneut eine chaotische Phase, die über eine halbe Stunde andauerte. Als ich ihn fragte, konnte Charles sich zunächst nicht erinnern, was ihn so aufgebracht hatte, doch nach einigem Nachdenken fiel ihm ein, dass der Marketingdirektor, ohne ihn anzusehen, die Bemerkung ins Gespräch gestreut hatte, die Themen des Katalogs passten schlecht zu dem neuen Image, das man propagieren wolle. Bei der Rückkehr in sein Büro hatte das Chaos sich wieder gelegt, und an seine Stelle war eine relative Kohärenz getreten: Zu diesem Zeitpunkt war Charles damit beschäftigt, eine Produktionsplanung zu überarbeiten, von der er sehr viel hielt. Als er dann abends im Stau stand, schlug seine Nervosität sich unmittelbar in einer weiteren Chaosphase nieder. Nachdem er, zu Hause angekommen, seine Frau und seine Kinder begrüßt hatte, folgte erneut eine zehnminütige Kohärenz. Warum nur zehn Minuten? Weil er dann den Fernseher eingeschaltet hatte, um sich die Nachrichten anzusehen…

      Verschiedene Untersuchungen ergaben, dass negative Gefühle – Zorn, Angst, Traurigkeit und selbst alltägliche Sorgen – starke Pulsschwankungen auslösen und unseren Körper ins Chaos stürzen.13 Umgekehrt zeigen andere Studien, dass positive Gefühle wie Freude, Dankbarkeit und vor allem Liebe die Kohärenz fördern. Binnen einiger Sekunden führen sie zu einer regelmäßigen Welle, die bei einer Aufzeichnung der Pulsfrequenz förmlich ins Auge sticht.14

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