Johannas Gerechtigkeit (Rache einer Vergewaltigten). Martin Wischmann

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Johannas Gerechtigkeit (Rache einer Vergewaltigten) - Martin Wischmann

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und drückte sie derartig fest auf Mund und Nase, das kaum mehr das Atmen möglich war. Seine zweite Hand umklammerte den Haaransatz des Mädchens, unmittelbar unter dem Gummiband, welches den langen Haarzopf fixiert hielt. In diesem schmerzhaften Klammergriff, aus dem es kein Entkommen gab, zerrte der plötzlich schnaufende und schwitzende Mann Johanna einige Meter weiter in das Unterholz, bis zu einem vermoderten, mit Moos überzogenen Baumstamm, der schon Jahre auf dem laubbedeckten Boden liegen musste, so verwittert war er. Hinter dem Stamm drückte der Dicke das Kind zu Boden, so das des mit dem Bauch nach unten zum Liegen kam. Ruckartig riss er anschließend den Schulranzen vom Rücken des Mädchens, um unmittelbar danach den Kopf der Kleinen fest auf den Erdboden zu drücken. Johanna spürte den Druck der kräftigen Hand an ihrem Hinterkopf, während ihr schmerzendes Gesicht auf den moosigen Untergrund gepresst, vor Schmerz brannte. Das Kind, vor Schock wie erstarrt, nahm wie in Trance wahr, dass sich der Mann über sie beugte und in ihr Ohr flüsterte: „Wenn du dich bewegst oder ein Wort sagst, bist du tot!“ Ohne die geringste Kraft im Körper, vor Angst wie gelähmt, nahm Johanna dennoch genau wahr, wie eine zitternde, massige, feuchte Hand des Unbekannten unter ihren Rock glitt, die Unterwäsche wegriss und ihr so weh tat, dass sie am liebsten laut aufgeschrien hätte, doch vor Todesangst blieb ihr Mund stumm. „Kein Ton, …kein Wort“, keuchte das verschwitzte Gesicht in das Ohr des Mädchens und fuhr weiter mit den Worten fort, „Augen zu, …ich tue mit dir, was ich will. Und du machst, was ich dir sage, sonst tue ich dir noch viel mehr weh. Schließ die Augen!“ Johanna tat wie ihr befohlen, vor Angst nach Luft ringend und unter wahnsinnigen Schmerzen spürend, wie sie von etwas Unbekanntem immer und immer wieder grausamst berührt wurde. Die bärenstarken Hände warfen den wehrlosen Kinderkörper auf den Rücken und das Kind glaubte zu ersticken, da das gewaltige Gewicht des Angreifers auf ihm lastete, den Kindermund aufriss und auch dort ungeheuerliche Schmerzen verursachte. Innerlich bis zum Bersten angespannt, zitternd am ganzen Körper, glaubte Johanna wahrzunehmen, das Druck und Schmerzen nachließen. Nach undefinierbarer Zeit des angstvollen Abwartens, drehte sich der schmerzende Leib mit weiter geschlossenen Augen erneut in die bäuchlings auf dem Erdboden liegende Position. Gedanken durchzuckten Johanna, die noch immer einen wie wild rasenden Puls hatte. „Was hat der ekelhafte Mann mit mir gemacht? Was macht er, wenn ich die Augen öffne? Ist er noch hier? Tut er mir noch mehr weh? Schlägt er mich tot? Warum war er so böse?“ Frage um Frage, auf die es keine Antworten gab, bis das Kind auf einmal merkte, dass sich wie von selbst seine Augen ein wenig öffneten. Fünf, sechs Meter vor sich konnte Johanna auf dem Waldboden ihren Ranzen liegen sehen. Der Blick ging nach links und rechts, fast ohne den schmerzenden Kopf zu bewegen. Dann hob sie den Kopf ein wenig an und blickte sich abermals um. Sie war allein, ihr Peiniger war nicht mehr da. Sie spuckte etwas übel schmeckendes, von dem sie annahm, dass es wohl von dem Waldboden, auf den sie ja gedrückt worden war, aus und sah sich weiterhin prüfend um. Zitternd am ganzen Körper stand Johanna ganz langsam auf, von Kopf bis Fuß schmerzend, um erschrocken festzustellen, dass ihre Unterhose neben ihr auf dem Waldboden lag. Mit unkontrollierten Bewegungen zog sie sich weinend und wimmernd an und setzte abschließend den Schulranzen auf. Schmutzig war sie seltsamerweise nicht, nur ihr Bauch und die Beine fühlten sich nass und kalt an, durch das feuchte Moos, auf das der Gewaltverbrecher das Kind gedrückt hatte. Mit schweren Schritten, die Umwelt wie durch einen Schleier wahrnehmend, trat Johanna den Weg nach Hause an, wobei ihr unkontrolliert tausend Gedanken und Fragen ohne Antworten durch den Kopf schossen, die wie Seifenblasen zu zerplatzen schienen und nach jedem Platzen der doppelten Anzahl von unbeantwortbaren Fragen Platz machten. Aber sie war sich sicher, die Eltern durften von diesem Zwischenfall nichts wissen, zu sehr schämte sie sich. „Außerdem blute ich ja nicht“, sagte sie kaum hörbar mit weinend, brüchiger Stimme zu sich selbst, ganz so, als wolle sie sich selbst Mut machen. Tatsächlich gelang es dem Mädchen Daheim keinen Verdacht bei seiner Familie aufkommen zu lassen. Dies fing bei ihrer Heimkehr, unmittelbar nach der grauenvollen Vergewaltigung an, als sie zuerst von ihrer Mutter, die hinter dem Haus im Gemüsegarten arbeitete, unbemerkt ins Badezimmer ging, um sich frisch zu machen und das Haar durchzukämmen. Danach, als sie zu ihrer Mutter in den Garten ging, fing sie zwar unvermittelt an zu heulen, doch sie nannte als Grund der Traurigkeit, den Todesfall von Opa Karl. Marianne glaubte dem Kind und tröstete es. Seitdem war für Johanna jedoch kein Tag mehr so, wie vor dem Verbrechen. Es gab keinen einzigen Tag und keine Nacht, ohne dass Johanna angstvoll zusammenzuckend aufschreckte und in Gedanken den dicken, ekelhaften Mann sah, der sie grob und schmerzerzeugend anfasste, festhielt mit seiner Körpermaße und ihr sehr weh tat. In der Schule kam es durchaus vor, dass sie urplötzlich erschreckt auffuhr, nur weil die Lehrerin ihren Namen nannte. Diese Schreckhaftigkeit entschuldigte und erklärte das Mädchen mit dem Schweineunfall vor Jahren auf dem elterlichen Hof, bei dem auch die Narbe auf ihrer Wange entstanden war. Die Narbe war, genau wie der Arzt es vorher gesagt hatte, sichtbar geblieben, doch Johanna störte sich nicht an ihr. Viel, viel schlimmer war die Narbe, die der Gewaltverbrecher, der Kinderschänder dem Mädchen zugefügt hatte, denn sie saß fest verwurzelt im Kopf, in den Gedanken und im gesamten Körper, für alle Zeit, bis zum letzten Atemzug. Die Unbekümmertheit, die kindliche Naivität, sorgenfreie fröhliche Gedanken und das Vertrauen gegenüber Anderer hatte der Fremde ihr genommen. Geborgen fühlte sich Johanna zwar in gewisser Weise in der Schule, am allermeisten aber Daheim, bei den Eltern und Bruder Dietrich. Die beiden Geschwister verbrachten viel Zeit miteinander, sei es beim Ballspielen, Radfahren oder sonstigen abwechslungsreichen Aktivitäten auf dem Hof. Es war fast, als ob Dietrich ohne Worte spürte und fühlte, dass seine Schwester eine besondere Obhut, den Schutz des größeren und älteren Bruders benötigte und tatsächlich verstanden die beiden sich oft wortlos.

      Es war irgendwann im Herbst 1977, als die neuneinhalbjährige Johanna ein dickes Lexikon aus Vaters Bücherregal nahm und es, mehr oder weniger planlos, durchblätterte. Als sie bemerkte, dass jeweils oben in der Ecke Jahreszahlen verzeichnet waren und darunter im jeweiligen Artikel Geschichten und Geschehnisse des genannten Jahres beschrieben wurden, lockte sie die Neugierde zu dem Jahr 1968, -ihrem Geburtsjahr. Das Kind glaubte insgeheim, dass es etwas über sich selbst in dem Lexikon finden würde. 1966, …1967, und eine Seite weiter das Jahr 1968. Gespannt las Johanna alles was dort über ihr Geburtsjahr geschrieben wurde. Mit den Texten konnte das Kind wenig anfangen. Dort standen Begriffe wie “Prager Frühling“, “Krieg in Vietnam“, “Robert F. Kennedy“ und “Bürgerrechtler King“. Alles Worte und Namen, die Johanna nicht einordnen konnte. Doch da huschte sie auf einmal hoch, denn sie las etwas Bekanntes. Ihr Geburtstag war dort vermerkt, jedoch nicht mit ihrem Namen, aber das Datum 04.April 1968 passte genau auf sie. War an diesem Tag noch etwas geschehen, außer ihrer Geburt, fragte sich Johanna gedanklich. Gespannt las das Mädchen den Text durch: „Bürgerrechtler Martin Luther King von weißem Fanatiker ermordet. Täter James Earl Ray wird zu 99 Jahren Zuchthaus verurteilt.“ Überrascht und nachdenklich nahm Johanna das Buch unter den Arm und ging in die Küche, wo Mama und Vater zusammen Geschirr spülten und abtrockneten. „Mama, Papa“, rief das Kind, während es zur Eckbank ging und das Buch ablegte, „wisst ihr, dass Martin Luther an meinem Geburtstag ermordet wurde? Wer war eigentlich Martin Luther?“ Rudolf drehte sich schmunzelnd um und sagte: „Du meinst wohl Martin Luther King, den Bürgerrechtler aus Amerika?“ Johanna nickte zustimmend. Rudolf trocknete seine Hände ab, ging zu seiner Tochter an den Tisch herüber und nahm dort Platz. Dann fing er zu erzählen an: „Ich weiß es noch wie heute. In den Morgenstunden nach deiner Geburt saßen Opa Karl und ich hier in der Küche, im Radio kam die Todesnachricht über Martin Luther King. Er war ein friedliebender, hochintelligenter Mensch, der von irgendeinem verrückten Irren erschossen wurde. Ich denke, er war ein wirklich guter Mensch. Er wollte vor allem die weniger schlauen und Ungerechtigkeit verbreitenden aufklären und zu besseren Menschen machen, aber sein irrer Mörder hatte etwas dagegen, weil bei vielen dummen Menschen, Gewalt die Stelle im Kopf ausfüllt, die üblicherweise für Intelligenz und Nächstenliebe gedacht ist. Tja, und Martin Luther Kings Todestag ist dein Geburtstag. „Hat das eine Bedeutung mit dem gleichen Tag, …werde ich dadurch besser oder schlechter?“, fragte Johanna, -und bekam von Mutter Marianne, die noch immer am Waschbecken stand, die ernst betonte Antwort: „ Natürlich nicht! Natürlich hat es keine Bedeutung für dich!“ „Egal“, fuhr Johanna fort, „ich merke mir den Namen Martin Luther, …Martin Luther King trotzdem. Vielleicht haben wir das ja mal in der Schule.“ „Gut möglich“, sagte Rudolf, „in dem Lexikon findest du alles Mögliche. Nicht nur über Attentate.“

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