Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Tag 1 - Als Gott entstand - Stefan Koenig страница 10
Und nun sah er plötzlich die sonderbaren Steine, die man im Sande gefunden hatte. Wer hatte sie so an beiden Seiten zugeschärft? Boucher de Perthes war sich sofort im Klaren: das konnte nur der Mensch gewesen sein. Mit ungeheurer Aufregung betrachtete er seinen Fund. Natürlich, das waren nicht Überreste des Urmenschen selbst. Aber es waren seine Spuren – Spuren seiner Arbeit. Hier hatte nicht der Fluss gearbeitet, sondern die Hand.
Über seine Entdeckung schrieb Boucher de Perthes ein Buch, das er kühn benannte: „Von der Schöpfung – ein Werk über die Entwicklung und Entstehung der Lebewesen“.
Da begann der Kampf. Von allen Seiten wurde Boucher de Perthes angegriffen, ebenso wie Dubois. Die angesehensten Archäologen suchten zu beweisen, dass dieser Provinzamateur nichts von der Wissenschaft verstehe, dass man seine steinernen „Äxte“ als Fälschungen ansehen müsste, dass sein Buch zu verurteilen sei, da es einen Anschlag auf die Lehre der Kirche von der Schöpfung des Menschen darstelle. Volle fünfzehn Jahre dauerte der Krieg zwischen Boucher de Perthes und seinen Gegnern. Er wurde grau und alt, aber er kämpfte hartnäckig und bewies das hohe Alter des Menschengeschlechts. (Wir wissen inzwischen dank fortgeschrittenster Technik und Untersuchungsmethoden sehr genau die Entwicklungsschritte der Natur, von Pflanzen, Tieren und von uns Menschen, während Boucher de Perthes noch etwas im Ungewissen herumstochern musste.)
Es war damals ein ungleicher Kampf, und doch siegte Boucher de Perthes. Zur rechten Zeit kamen ihm die Geologen Lyell und Prestwich zu Hilfe. Sie reisten ins Sommetal, prüften die Fundorte, studierten Perthes‘ Sammlungen sorgfältig und erklärten die von ihm gefundenen Werkzeuge nachweislich für Werkzeuge des Urmenschen, der in Frankreich gelebt hatte, als es dort noch Elefanten und Nashörner gab. Das Buch von Lyell „Geologische Beweise für das Alter des Menschen“ entzog allen Angriffen auf de Perthes den Boden.
Dafür erklärten seine Gegner jetzt, dass de Perthes eigentlich nichts Neues entdeckt habe, dass schon viel früher Werkzeuge des Urmenschen gefunden worden seien. Darauf antwortete Lyell treffend: „Jedes Mal, wenn die Wissenschaft etwas Wichtiges entdeckt, sagt man zunächst, dass es der Religion widerspreche, um dann zu erklären, dass es allen längst bekannt sei.“
Solche steinernen Werkzeuge wurden nun, nachdem de Perthes ihre Natur erkannt hatte, allenthalben gefunden. Am häufigsten entdeckte man sie in Gruben an Flussufern, wo Steinschutt und Sand gewonnen wurde. So stoßen die Spaten und Bagger der heutigen Arbeiter in der Erde auf die Werkzeuge jener Zeiten, da die Menschen das Arbeiten überhaupt erst erfanden.
Die ältesten Werkzeuge sind Steine, die mit einem anderen Stein auf zwei Seiten zurechtgeschlagen wurden. Zusammen mit diesen Steinwerkzeugen haben sich die Späne und Splitter erhalten, die bei ihrer Herstellung entstanden. Diese Steinwerkzeuge, das sind die Spuren der Hände, Spuren, die zu den Flusstälern und Sandbänken führen. Hier, in den Flussanschwemmungen und auf den Sandbänken, suchte sich der Mensch das geeignete Material für seine künstlichen Krallen und Zähne. Das war schon eine echt menschliche Tätigkeit. Das Tier kann wohl Nahrung und Material zum Nestbau sammeln, es sucht aber nie das Material zur Bildung seiner Krallen und Zähne.
Wir alle haben von der Technik der Tiere gehört und gelesen oder sie selbst beobachtet. Wir kennen tierische Bauarbeiter, Zimmerleute, Weber; ja sogar Schneider gibt es unter den Tieren. Wir wissen zum Beispiel, dass die Biber mit ihren scharfen, kräftigen Schneidezähnen Bäume fällen, ebenso gut wie Holzfäller, und dass sie aus den Stämmen und Zweigen einen richtigen Deich bauen, der den Fluss aufhält, so dass er über die Ufer tritt.
Und fast jeder kennt doch die gewöhnlichen roten Waldameisen. Man braucht nur mit einem Stock im Ameisenhaufen zu scharren, um zu sehen, was das für ein geschickter, vielstöckiger Bau ist – ein richtiger Wolkenkratzer aus Tannennadeln. Es erhebt sich die Frage: Hätten die Ameisen oder die Biber nicht die Möglichkeit, es dem Menschen irgendwann einmal gleichzutun, wenn er nur nicht immer wieder ihre Arbeiten zerstören würde? Könnte es nicht sein, dass, sagen wir in Millionen Jahren, Ameisen ihre Ameisenzeitungen lesen, in Ameisenfabriken arbeiten gehen, in Ameisenflugzeugen fliegen und in ihrem TV die Sendung „Ameisen‘s next Topmodel“ von Heidi Ameiso-Klum sehen können?
Die Wissenschaft meint, dass es niemals dazu kommen wird. Denn zwischen Menschen und Ameisen besteht ein sehr wichtiger Unterschied. Worin besteht der Unterschied?
Etwa darin, dass der Mensch größer ist als die Ameise?
Nein.
Oder darin, dass die Ameise sechs Beine hat und der Mensch nur zwei?
Nein, wir sprechen von einem ganz anderen Unterschied.
Wie arbeitet der Mensch? Er arbeitet weder mit den bloßen Händen noch mit den Zähnen, sondern mit einer Axt, einem Spaten, einem Schraubendreher, einem Hammer – und inzwischen sogar mit Automaten, die dies alles in sich vereinen. In einem Ameisenhaufen dagegen könnt ihr suchen, soviel ihr wollt, ihr werdet keine Axt, keinen Schraubendreher, keinen Hammer, keinen Spaten und ganz gewiss auch keine computergesteuerte Drehbank finden. Wenn die Ameise etwas zu zerschneiden hat, gebraucht sie die lebendigen Scheren, mit denen ihr Kopf ausgerüstet ist. Wenn sie einen Gang zu graben hat, so gebraucht sie vier lebendige Spaten, die sie ständig mit sich rumzuschleppen hat (während unser Spaten im Gartenhäuschen auf seinen Einsatz wartet) – sie benutzt ihre vier Beine. Mit den zwei Vorderbeinen hebt sie die Erde aus, mit den beiden hinteren schleudert sie sie fort; die mittleren Beine dienen als Stütze.
Sogar lebende Gefäße gibt es bei den Ameisen. Eine Ameisensorte hat die Keller ihres Baus voller lebender Fässer. In einem dunklen, niedrigen Erdgewölbe hängen in dichten Reihen, unter der Decke, richtige Fässer. Sie sind unbeweglich. Da kommt eine Ameise in das Gewölbe gekrochen und trommelt mit ihren Fühlern gegen eines der Fässer: Das Fass wird lebendig und beginnt sich zu bewegen. Es zeigt sich, dass das Fass einen Kopf, eine Brust und Beine hat, dass es nichts anderes ist als das riesige, aufgeblasene Bäuchlein einer Ameise, die sich an den Querbalken der Decke anklammert. Sie öffnet die Kiefer, und aus ihrem Mund tritt ein Honigtröpfchen. Die Ameisenarbeiterin, die gekommen ist, um sich zu stärken, leckt dieses Tröpfchen ab und geht wieder an ihre Arbeit. Das Ameisenfass schläft im Kreise der übrigen Fässer wieder ein.
Eine buchstäblich „lebendige“ Technik hat die Ameise in Jahrmillionen entwickelt – aber sie verwendet eben keine künstlichen Werkzeuge und Geräte wie der Mensch, sondern natürliche, die sie ständig mit sich herumträgt.
Auch der Biber benutzt lebende Werkzeuge. Er fällt die Bäume nicht mit einer Axt, sondern mit seinen Zähnen. Ameise und Biber verfertigen sich also nicht ihre Werkzeuge, sie werden vielmehr mit einer kompletten Werkzeugausrüstung geboren – wie alle anderen Tiere, wie unsere engen Verwandten, die Schimpansen und die anderen Affenarten. Wie auch wir einmal geboren worden waren.
Auf den ersten Blick erscheint es gewiss bequem: Ein lebendes Werkzeug kann man nicht verlieren. Aber wenn man überlegt, wird jedem klar, dass ein solches Instrument unvorteilhaft ist. Man kann es nicht verbessern, austauschen oder umändern. Der Biber kann seine Schneidezähne nicht zur Reparatur bringen, wenn sie vom Alter stumpf geworden sind. Und er kann die Werkstatt seiner Nachkommen auch nicht erweitern, indem er seine „Lebend-Werkzeuge“ weiter vererbt. Jeder Nachkomme kommt immer wieder mit den gleichen „Lebend-Werkzeugen“ zur Welt. Und die Ameise kann sich in keiner Werkstatt ein neues, vervollkommnetes Bein bestellen, um bequemer und schneller in der Erde zu graben.
Stellen wir uns vor, der Mensch hätte ebenso wie die anderen Tiere nur angeborene Werkzeuge, nicht solche aus Holz, Eisen und Stahl. Da könnte er weder ein neues Werkzeug erfinden noch das alte umändern. Um einen Spaten zu haben, müsste er mit einer spatenähnlichen Hand geboren werden. Das ist ein ganz grotesker Gedanke. Aber nehmen wir trotzdem an,