Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold

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Bau vorbeifährt, denkt sie an den Vater, auch an den Namen „Brüning-Palast“, an diesen Notverordnungskanzler, dem der Bau zu danken war. Sie weiß nicht, ob dieser Name heute noch geläufig ist. In ihrer kindlichen Erinnerung überragt das Gebäude alle anderen Bauten dort rund um die Sonnenallee. Heute verschwindet es fast, die entstandenen Hochhäuser, Wohnsilos aus den siebziger Jahren, die sie schon über die Mauer hinweg vom Bahnhof Plänterwald aus hatte sehen können, und ein erst jüngst errichtetes Hotel überragen längst den denkwürdigen Bau. Sie bedauert, dass sie den Brüning-Palast nicht von innen kennt. Obwohl sie sicherlich nichts versäumt dabei, was sollte ein Gebäude, in dem die Neuköllner Arbeitslosen verwaltet werden, schon Denkwürdiges enthalten. Sie musste für ihren Arbeitslosenstempel nach Adlershof fahren. Als Arbeitslose Ost hatte sie dort ihrer Meldepflicht nachzukommen. Der Vater würde staunen, wie jetzt alles so modern gehandhabt wurde. Nur noch vierteljährliche Meldepflicht. Für Vorrentner wie sie, die dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen wollten, so umschrieb man die ihr auferlegte Nötigung, entfiel auch das, und Geld, kam verlässlich aufs Konto. Sie schaute mit innerer Befriedigung auf die im Kontoauszug angegebene Summe. Nur einmal kroch in ihr die Ahnung hoch, dass es vielleicht nicht immer so weitergehen musste mit den Zahlungen. Als man das Geld nicht mehr vierzehntägig überwies, sondern erst am Monatsende, für den schon gelebten Monat, stieg ihr die Angst in den Hals, würgte kurz. Nun war sie Rentnerin geworden, brauchte nicht zu fürchten, ausgesteuert zu werden. Sie wusste nicht einmal, ob das heute auch noch so hieß. Aber der Vater hatte jedenfalls irgendwann diesen Status. Während dieser Zeit verdiente die Mutter aushilfsweise durch Arbeit in der Batteriefabrik Sachs in Schöneweide. Erstaunt wäre der Vater, fassungslos, dass vieles wiederzukehren schien. Geschichte wiederholt sich nicht, war einer seiner unverrückbaren Leitsätze, den auch sie übernommen hatte. Aber er war gut heraus, er musste es nicht mehr erleben, dass es anders war.

      Nur sie musste noch, wollte auch wohl, war noch neugierig. Sie hatte noch immer Hoffnungen, freilich wusste sie nicht zu sagen worauf. Und was viel-leicht noch kam? Immer noch oder wieder lebt sie im Grenzland, in ihrer Wohnung am Plänterwald, die zu den ersten Plattenbauten vom Typ Q 3 A gehört, die der Arbeiter- und Bauernstaat gebaut hat. Erstbezogen wurde die von den Eltern zum 10. Jahrestag der jungen Republik. Damals verließen sie die Laube, bezogen die erste Wohnung ihres seit Jahrzehnten gemeinsamen Lebens. Und sie ist in das bescheidene Quartier zurückgekehrt, auch, weil die Mutter sie brauchte in ihrer Hinfälligkeit. Es war eine naheliegende Möglichkeit, nachdem der Grünauer Hauswirt Eigenbedarf für ihre komfortable Dreizimmerwohnung angemeldet hatte. An dieser Behausung hing sie sehr. Sie schien ihr der Beweis ihres sozialen Aufstiegs in der DDR. Der nun längst hinter ihr liegt. Jetzt lebt sie wieder dort, wo sie herkommt. In bescheidenen Verhältnissen. So kam sie dem Gang der Dinge entgegen, begriff sofort, dass sie ihren Abstieg planmäßig organisieren musste, um nicht ins Stolpern zu geraten. Das entsprach der herkömmlichen Ordnung, die nach der Wende nun vorerst endgültig wieder hergestellt ist. Ordnungen erheben immer diesen Anspruch. Sie kannte es auch von der vorletzten, nun vorerst endgültig verschwundenen sozialistischen Ordnung der Verhältnisse.

      Wenn sie zehn Minuten den Dammweg entlang fährt, zu den väterlichen Ortschaften Richtung Süden, kommt sie über die Grenze, die am Heidekamp-graben entlang führte, zwischen zwei verschiedenen Arealen von Kleingartenanlagen mit gleichen Namenstypen. „Drosselgarten“, „Vogelsang“ und „Kuckucksheim“, signalisieren vergleichbare Glückserwartungen, Wohlbehagen im beschaulichen Winkel, diesseits und jenseits der zwischenzeitlich scharf bewachten Grenze. Die Gartenkolonien mit ihren Lauben und Bepflanzungen bilden an dieser Stelle das Verbindungsstück zwischen den Berliner Stadtbezirken Treptow und Neukölln, die, je weiter man in ihren Kern vordringt, ihren unterschiedlichen Charakter offenbaren. Jedenfalls für Gisela, die Spazierfahrerin, die die Grenze noch in sich trägt, wenn sie den mit Goldrute und Brennnessel bewachsenen Streifen quert, ein Grün, das notdürftig den Müll bedeckt, der hier abgelegt wurde. Sie fährt durchs Planetenviertel, das sich südlich und nördlich der Sonnenallee erstreckt. Hier tragen alle Straßen Sternbildnamen. Dabei fällt ihr auf, dass es auch in ihrer Nähe eine Orionstraße gibt. Aber diese Namengebung hatte mit der nahegelegenen Sternwarte zu tun. Sie denkt nicht, dass die östlichen Stadtväter in den Sechzigerjahren, als diese Straßen benannt wurden, eine Verbindung zum Neuköllner Planetenviertel schaffen wollten. Das Planetenviertel kennt sie aus ihrer Kindheit, gegenüber der Jupiterstraße, wo es jetzt einen Aldi-Markt gibt, war sie manchmal ins Kino gegangen. Das hieß auch Orion. Für 25 Pfennige, West, versteht sich, die sie nicht immer hatte. Aber man nahm auch ihr Geld, wenn sie 1:4 zahlte, ließ man sie hinein. Allerdings ging sie nur selten in diese Klitsche, wie der Vater das Kino nannte. Die Wildwestfilme dort waren ihr zu albern. Sie stellte höhere Ansprüche, ging schließlich auf die Oberschule, suchte anderes.

      Fährt sie heute in diese Richtung, trifft sie Leute, an die damals nicht zu denken war. Mit ihrem nicht sehr ausgeprägten Unterscheidungsvermögen hält sie die Leute für Türken, Südosteuropäer jedenfalls, Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des einstigen Jugoslawien vielleicht. Die bewohnen jetzt die Häuser im Planetenviertel, die aus dem Wohnungsbauprogramm der Weimarer Zeit und der ersten Jahre von Hitlers Macht stammen. Mit kleinen Zimmern und großen Küchen waren sie vor allem für kinderreiche Familien vor-gesehen. Kanonenfutter für den künftigen Krieg wuchs in diesen Sozialwohnungen heran. Heute hat man den dreigeschossigen Häusern noch eine Etage aufgesetzt. Die Fassaden verraten, dass sie vor nicht allzu langer Zeit renoviert wurden, es gibt erst wenige Graffitis an Wänden und Türen. Die Häuser und Wohnanlagen mit ihren hohen runden Durchgängen zu begrünten Höfen und Gartenanlagen, ähneln den Bauten jenseits der Grenze in ihrem Stadtbezirk. Nur die Belegung ist eine andere. Ost-Rentner überwiegend hier, nicht-deutsche Familienverbände dort. Gisela würde gern sehen, wie sie wohnen dort. Sie beobachtet Familien, die in den kleinen Vorgärten auf Decken zusammensitzen, vor den Hauseingängen ihre Teppiche reinigen. Deren Leben spielt sich anders als auf der anderen Seite ab. Sommers in den von Büschen und Bäumen begrünten Höfen. Menschengruppen sitzen zusammen, die Kinder auf dem Spielplatz daneben. Außerhalb der Familien gesellen sich die Männer, rauchend, laut palavernd, die Frauen mit Kopftüchern und knöchellangen Kleidern, strickend, miteinander redend. Gisela wüsste gern, worüber sie sprechen. Nein, sie hat keine Ahnung, welches Leben sich jetzt hier abspielt. Nur in den Reihenhäusern mit den kleinen Gärten hinter dem Haus in der Widder- oder Steinbockstraße, da ahnt sie, wie es zugeht. Dort in einem der genossenschaftseigenen Häuser wohnt auch ihr Cousin, ein wohlbestallter Senatsbeamter mit Frau und zwei erwachsenen Töchtern. Deren Ansprüche überforderten bisweilen den gewiss nicht armen Mann. Die Wohnsiedlung der Genossenschaft „Ideal“ war nach den wohnungsbaulichen Reformvorstellungen seit Beginn der 1920er Jahre gebaut worden. Sie verdankte ihre Realisierung einem rührigen sozialdemokratischen Bürgermeister in Neukölln. Heute hat der Senat die Wohnungen an die Mieter verkauft. Natürlich nur an die, die solche mehrgeschossige Reihenhaushälfte bezahlen können.

      Vollkommen fremd sind ihr dagegen die Wohnsilos, die während der Grenz-zeit gebaut wurden. Die lernt sie erst jetzt kennen. In ihrer Kindheit gab es, sowohl im Gebiet zwischen Sonnenallee und Neuköllnischer Allee, als auch in dem zwischen Sonnenallee und Kiefholzstraße, ausgedehnte Laubenareale. Über die Neuköllnische Allee hat ihr Schulweg geführt, bei dem sie zweimal über die Grenze musste. Einmal, wenn sie über die Brücke im Verlaufe der Britzer Allee ging. Das zweite Mal, wenn sie nach einem weiten Weg über die Neuköllnische Allee, den Schwarzen Weg entlang über die Sonnenallee, den Heidekampgraben erreicht hatte. Dort betrat sie dann wieder den sowjetischen Sektor, in dem ihre Schule stand. In der Kiefholzstraße, wo sie heute noch steht, weithin sichtbar.

      Den Schwarzen Weg gibt es heute überhaupt nicht mehr. Sie könnte, auf der Sonnenallee stehend, nicht einmal mehr die Stelle angeben, wo der einst verlief. Zwischen Jupiterstraße und Grenze setzte man in den Sechzigerjahren einem ausgedehnten Häuserkomplex, der ihren Schulweg verschwinden ließ. Auf der anderen Seite der Grenze baute die DDR Wohnhäuser nach dem damaligen Standard. Später geborene, die die Häuser bewohnten, mögen die Sonnenallee immer nur als dieses kurze Ende bis zur Grenze gekannt haben. Ihre Sonnenallee ging immer bis zum Hermannplatz. Denn oft genug war sie mit der Straßenbahnlinie 95 bis nach Neukölln oder Tempelhof gefahren. Später freilich war die Fahrt zwischen der Haltestelle Schwarze

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