Tobias, ich schreib Dir ein Buch. Angelika Nickel
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Kapitel 1: Das Los auf der Straße
Feuchte, unangenehme Kälte und widerlicher Modergeruch drang Tobias entgegen. Tobias fröstelte. Mit zittriger Hand suchte er nach dem Kellerlichtschalter.
Von oben konnte er seine Familie hören. Lachen und abermals Lachen. Aber auch das Scheppern und Klirren von Geschirr, wie das Rücken von Möbeln hörte der dreizehnjährige Junge. Diese Geräusche erfolgten nicht grundlos, denn heute waren er und seine Familie umgezogen. Endlich. Wie sehr hatte er sich auf diesen Tag gefreut.
Vor drei Monaten hatten seine Eltern zufällig auf der Straße ein Los gefunden. Ein Los mit dem sie zuerst mal so gar nichts anzufangen wussten. Dann, als sie Zuhause waren, sah Herby van de Ströhm, Tobias´ Vater, im Internet nach, um zu sehen, was es mit dem Los auf sich hatte. Herby van de Ströhm brauchte auch nicht lange die Lotteriegesellschaft – Mit Donner und Doria – ausfindig zu machen. Ohne langes Nachdenken schrieb Tobias´ Vater die Losgesellschaft an, teilte dieser die Losnummer des gefundenen Loses mit. Nach zwei Wochen erhielt die Familie Van de Ströhm von der Losgesellschaft eine Gewinnmitteilung. Herby, der es fast nicht fassen konnte, jappte nach Luft. Er hatte das Gefühl zehn Zigaretten auf einmal zu rauchen .Nach Luft ringend rief er nach seiner Frau. Dummerweise stand diese im Treppenhaus und unterhielt sich mit ihrer Nachbarin Renate.
Herby van de Ströhm ging in die Knie. Er bekam keine Luft mehr. Röchelnd schleppte er sich zum Treppenhaus. Kaum verstehbar rief er: »Karin! Karin, schnell!«
Karin van de Ströhm hob ihren Kopf, sah die Nachbarin an und fragte: »Hat mich da jemand gerufen?«
Im selbem Moment rief Herby wieder. Sofort erkannte Karin van de Ströhm, dass irgendetwas nicht stimmte. Während sie schon am Hochrennen war, hob sie für die Nachbarin entschuldigend die Hand und stolperte dabei noch über ihren Mantel, so dass sie sich ganz böse ihren Ellenbogen am Treppengeländer anschlug. »Scheiße!«, stöhnte sie auf und rannte weiter, zwei Stufen auf einmal nehmend. Außer Atem kam sie vor ihrer Abschlusstür an. Ihr Mann lag röchelnd am Boden. Schnell beugte sich Karin über ihn, öffnete ihm die Krawatte, rannte in die Küche und befüllte zwei Gläser mit Wasser. Das eine nahm sie und schüttete es ihrem Mann ins Gesicht, so dass dieser wieder zu sich kam. Dann kniete sie sich neben ihn, zog seinen Kopf in ihren Schoß und hielt ihm das Wasser zu trinken hin. Es dauerte auch nicht lange und Herby kam wieder zu sich. Sein Atem wurde ruhiger. Als er wieder richtig sprechen konnte, sah er seine Frau strahlend an. »Wir haben gewonnen, Karin! Wir haben gewonnen!«
»Wo haben wir gewonnen? Haben wir mal wieder `nen Fünfer, weil Ihr falsche Zahlen aufgeschrieben habt, oder wie? Ist ja nichts Neues, dass ihr Zahlen aufschreibt, die wir dann letztendlich doch nicht getippt haben. Oder haben Margot und ich gewonnen, mit so `nem dämlichen Dreier wohl mal wieder.«
»Nein, Karin, nein. Unser Los. Wir haben mit dem gefundenen Los gewonnen. Die Lotteriegesellschaft, sie hat es mir gerade mitgeteilt.« In Erinnerung an den Gewinn begann Herby schon wieder zu röcheln. Daraufhin zog Karin ihn an den Armen hoch und schleppte ihn in die Küche, wo er sich sofort auf einen Stuhl fallen ließ. Mit fahrigen Fingern hielt er Karin das ausgedruckte Mail der Lotteriegesellschaft hin. Karin van de Ströhm nahm es ihm ab und las. Noch während des Lesens griff sie neben sich, suchte mit zittrigen Händen die Lehne des Stuhles. Sie ließ sich auf ihn fallen. Sie konnte es nicht fassen. Sie las und las, aber an dem Text änderte sich nichts.
Ganz groß stand da geschrieben:
Sehr geehrte Familie Van de Ströhm,
wir freuen uns Ihnen mitteilen zu können, dass Sie mit Ihrem Los unseren Jackpot geknackt haben. Bitte setzen Sie sich mit uns in Verbindung, damit wir einen Termin für die Gewinnübergabe, sowie einen Fototermin, mit Ihnen vereinbaren können.
Die Gewinnsumme beträgt 5.000.000 Euro.
Natürlich wäre es in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie das Geld auf ein Konto überweisen lassen wollten.
Teilen Sie uns bitte innerhalb von 14 Tagen mit, wie die weitere Verfahrensweise sein soll.
Mit freundlichem Gruß
Hans im Glück
Donner und Doria (Lotteriegesellschaft)
Karin holte tief Luft. »Das Los auf der Straße?! Jetzt brauch ich drei Bier und fünf Schnäpse.« stöhnte sie, dabei rannen ihr Tränen die Wangen hinunter.
»Lass uns heute Abend essen gehen, wir alle: Du, ich, und, und, und. Auch Stefanie, Sabine und Tobias. Und Martina und Carsten. Ach, Carmen und Uwe rufen wir auch an. Am besten auch noch Liz und Sena. Und wenn Du willst auch Geli.« Schlug Herby van de Ströhm vor.
»Klar, Du willst schon wieder leichtsinnig werden. Nee, lass mal gut sein, hinterher ist das nur ein ganz großer Betrug. Lass uns erst mal mit Donner und Doria in Verbindung setzen, sicher ist sicher. Und wenn wir das Geld haben, dann, dann geben wir ganz groß essen. Schottland. Damit´s auch mal gleich nach was aussieht.«
»Du immer mit Deinem Pessimismus.« klagte Herby.
»Was Du Pessimismus nennst, das nenne ich Vorsicht.« konterte Karin.
Doch Karin van de Ströhms Vorsicht war unnötig und absolut unbegründet. Es dauerte nicht eine Woche, da waren die Van de Ströhms tatsächlich Neuzeitmillionäre.
Und sie taten es tatsächlich: Sie fuhren mit der ganzen Familie, sowie den Freunden nach England und speisten im Ritz. Blieben dort sogar noch für ein langes Wochenende. Was lag da ferner, als sich alte Schlösser, auch in Schottland, anzusehen?
Und ohne, dass sie es eigentlich vorhatten, fanden die Van de Ströhms ein altes Schloss, in das sie sich von Anfang an verliebten... Wie der Zufall es wollte, stand das Schloss zum Verkauf und die Van de Ströhms entschieden kurzerhand nach Schottland, in dem das wunderschöne alte Schloss lag, umzuziehen. Sehr zum Leidwesen der Freunde aus Deutschland, die dort zurückblieben.
So kam es, dass sich Tobias auf den Weg zum Keller machte, während seine Familie am Einziehen war. Da er nicht allzu viel helfen konnte, und auch nicht wollte, zog er es vor, das große Schloss ein bisschen näher anzusehen. Sein Zimmer, das hatte er sich bereits ausgesucht, alles andere konnten nun seine Eltern und Schwestern machen. Denn deswegen hatte ein Bruder doch Schwestern, bei Jana und Alexander war das doch auch so, oder etwa nicht?
Kapitel 2: Kellerseufzen
»Was mach ich denn jetzt nur? Geh ich runter oder gehe ich in die große Parkanlage?«, sagte Tobias zu sich. Er wusste nicht, ob er sich tatsächlich in diesen großen modrigen Gewölbekeller traute. Wer weiß, womöglich gab es da unten Ratten, und denen wollte er eigentlich nicht begegnen.
- Emilie, ich hole Emilie, dann bin ich nicht so alleine -, dachte der Junge und schloss die Kellertür wieder hinter sich. Somit konnte er die Geräusche nicht mehr hören. Leises Seufzen dran durch die langen und dunklen Kellerräume. Es hörte sich an, als würde der Keller weinen. Leise, fast so, als sollte es niemand sonst hören.