Exkursionen in die Gegenwart. Walter Rupp
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Exkursionen in die Gegenwart - Walter Rupp страница 2
Unser Gegenwartskundler sprach die Befürchtung aus, die Zeitgenossen hätten weithin eine Gefangenenmentalität angenommen, wie sie in Haftanstalten vorkommt. Sie geben sich - so wie die Gefangenen - damit zufrieden, sagte er, wenn der Staat für sie sorgt, wenn man von Zeit zu Zeit die Zelle weißelt, ein Fernsehgerät hineinstellt, und das Essen abwechslungsreich und schmackhaft ist.
Professor Wüst lobte noch eine Errungenschaft der Gegenwart: Die Abschaffung der Sklaverei. Es gibt noch Sklaven, widersprach ich. Heute geht man wohl nicht - wie in der Antike - auf den Markt, um sich einen dienstbereiten Sklaven auszusuchen. Man schickt sie auch nicht mehr in Steinbrüche oder auf Galeeren, wo sie bis zur Erschöpfung rudern oder sich auspeitschen lassen müssen, sondern kauft sie für Millionensummen ein und verlangt von ihnen als Gegenleistung nur, dass sie sich mit ganzer Seele einer Sportart verschreiben: Tore schießen, Meisterschaften gewinnen oder auf Rennstrecken die schnellsten Runden drehen. Auf diese Weise können sie sich einen Luxus leisten, den sich kein Nicht-Sklave, ja nicht einmal ihr Herr leisten kann.
Eine Feministin wollte von unserem Gegenwartskundler wissen, ob die feministische Bewegung eine bloße Zeitgeisterscheinung sei. Er erwiderte: Die moderne Gesellschaft habe der Emanzipationsbewegung viel zu verdanken, dass zwischen den Männern und den Frauen kaum noch ein Unterschied besteht, denn viele Frauen haben problemlos das Macho-Verhalten übernommen. Die Unterschiede werden endgültig verschwunden sein, wenn die deutsche Sprache weiblicher wird, weil Frauen sehr viel besser wissen - wie jeder aus Streitgesprächen weiß - was man alles aus der Sprache machen kann. Es ist schon merkwürdig, sagte ich, dass man noch immer ‘das Mädchen‘ und ‘das Weib‘ sagt, als hätten beide kein Geschlecht, und dass man ‘der‘ Mensch sagt, obwohl die Hälfte der Menschheit weiblich ist? Beim Wort Gott, bemerkte ich, sind Theologinnen dabei herauszufinden, ob auch er weiblich ist, kommen aber mit ihren Forschungen nicht recht voran, weil die Entfernungen zwischen hier und drüben doch beträchtlich sind und das Forschen sehr erschweren.
Dr. Wüst kam noch auf eine Zeiterscheinung zu sprechen: die Freudlosigkeit, ich musste ihm aber widersprechen: Das Lächeln ist noch nicht ganz verschwunden, sagte ich, es ist nur auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt: Auf Models, Fernsehansagerinnen und Stewardessen, die manchmal sogar über ihre Dienstzeit hinaus lächeln, denn Weinen wäre ein Entlassungsgrund. Das Lächeln gehört bei ihnen so sehr zu ihrem Gesicht, dass es sich nicht mehr herausradieren lässt. Lächeln kommt nur dort nicht vor, wo die Menschen an ihrem Wohlstand leiden.
Der Gegenwartskundler beendete den Rundgang mit dem Satz. Die Gegenwart ist besser als ihr Ruf. Widerstehen Sie der Versuchung, auszusteigen! Wer vor der Gegenwart flieht, kommt doch wieder dort an.
Exkursion in das Gesundheitswesen
Gesundheitsexpertin Dr. Lisa Heil führte uns durch das Gesundheitswesen und pries die enormen Fortschritten der Medizin, denen die Menschheit eine höhere Lebenserwartung zu verdanken hat. Ein Senior wollte wissen, wann es endlich möglich ist, auch die Lebenserwartung zu berechnen. Der eine muss gehen, klagte er, obwohl er geistig noch voll da ist, ein anderer darf bleiben, obwohl er für das Gesamtwohl nichts mehr beitragen kann, und mancher darf nachholen, was er versäumte, oder drunten büßen, damit er nicht ins Fegefeuer muss. Noch können wir Mediziner, darüber keine Auskunft geben, sagte die Ärztin, wieviel Vitalität in einem Menschen steckt, und ob Liebe ein tückisches, schnell abklingendes Fieber ist oder eine weit verbreitete, unheilbare Volkskrankheit.
Als die Gesundheitsexpertin für Bio-Erzeugnisse warb, die sich heute jeder, auch der Gesunde leisten kann, rief ich dazwischen, leider kann man sich aus dem Essen nur bestimmte Vitamine, aber nicht bestimmte Launen holen. Wer Essiggurken oder eine saure Lunge zu sich genommen hat, ist deshalb noch nicht schlechter Laune. Und die Kinder, die viele Süßigkeiten zu sich nehmen, sind deshalb noch keine liebenswürdigen und süßen Kinder. Ist es nicht empörend, entrüstete sich ein Exkursionsteilnehmer, dass ein Oberlandesgericht einen Arzt in einer Schadenersatzklage zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilte, weil er versäumt hatte, vor einer Herztransplantation das Herz eines Spenders von Empfindungen zu reinigen, die der Empfänger als lästig empfand. Seit wann, mischte ich mich ein, sind Chirurgen zuständig für reine Herzen? Das ist doch Sache der Beichtväter. Ein Medizinstudent unterbrach und fragte: weshalb versucht die Wissenschaft nicht, die begabtesten und wertvollsten Menschen zu klonen? Es gelang ihr doch bei den Rindern. Fürchtet sie etwa, die Individualität und die Artenvielfalt könnte dadurch verloren gehen? Lisa Heil hielt diese Befürchtung für unangebracht. Sie meinte: Jedes geklonte Wesen würde sich vom Original unterscheiden, weil es im Laufe seines Lebens verworrene Ideen aneignet, die es sich bis zu seinem Lebensende nicht mehr nehmen lässt.
Als ein Arzt von seiner Erfahrung sprach: Dass die Leute in die Beratungsstellen, die psychotherapeutischen und ärztlichen Praxen selbstgestellte Diagnosen mitbringen, die sie in zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen oder Bekannten erarbeitet haben und im Sprechzimmer – nach Rücksprache mit den dort Wartenden, die auch schon solche Beschwerden hatten – verfeinern und erweitern konnten, sagte die Gesundheitsexpertin: diese Leute stellen, Ärzte, Seelsorger oder Psychotherapeuten vor ein doppeltes Problem: Sie von ihrer Diagnose, die ihnen schon von so vielen bestätigt wurde, abzubringen, und sie für eine neu gestellte Diagnose zu gewinnen.
Als wir anschließend ein Altenheim besuchten, entrüstete sich ein Senior über die Gerontologen, die die Meinung verbreiten, wir Alten wären schwerhörig, weil wir, was wir nicht zur Kenntnis nehmen möchten, nicht zur Kenntnis nehmen; wir wären starrsinnig, weil wir die eigene Meinung höher als die der anderen schätzen; vergesslich, weil wir Rechnungen oft nicht begleichen; geizig, weil wir unsere Ersparnisse vor den Erben schützen und geschwätzig, wenn wir unsere mühsam erworbenen Erfahrungen anderen mitteilen, damit sie nicht in die gleichen Fehler tappen.
Mich, fuhr er fort, hat man hierher gebracht, obwohl ich noch rüstig bin. Mit mir zogen noch andere Persönlichkeiten ins Heim ein: ein Dichter, der anonymer Alkoholiker wurde, weil kein Verlag seine Lyriksammlung publizieren wollte; ein Gymnasiallehrer, dem es nie gelang, seine Schüler für seinen Unterricht zu interessieren; ein Geiger, der sich seinen Unterhalt als Straßenmusikant erspielte; eine viel beneidete Schöne, die ihre Karriere als Model begann und als allein erziehende Mutter beendete; ein Bankdirektor, der Pfarrer geworden wäre, wenn seine Frau die Aufhebung des Zölibates hätte durchsetzen können, und ein Schauspieler, der zeitlebens vergeblich nach den Rollen suchte, die zu ihm passten. Jetzt bin ich 72 Jahre alt, sagte er, aber die Altersweisheit kam noch immer nicht über mich. Soll ich noch weiter warten? Ich tröstete ihn mit den Worten: Leider ist die Altersweisheit unberechenbar. Den einen überfällt sie schon, wenn er noch klar denken kann, und bei einem anderen bleibt sie weg, wenn er sie in Anspruch nehmen möchte. Vielleicht kommt sie nicht über jeden und übergeht den, der sich nicht schon im Laufe seines Lebens mit ihr eingelassen hat? Vielleicht möchte auch die Weisheit nicht alt werden.
Lisa Heil bat uns, Organspender zu werden und sagte: So viele wertvolle Organe würden ungenutzt verwesen. Der Senior pflichtete ihr bei: Frau Doktor, sagte er, Sie haben Recht: Seitdem ich meine Patientenverfügung unterschrieben habe, schauen die Ärzte täglich mehrmals bei mir vorbei, um sich zu erkundigen, ob ich mich wirklich noch gut fühle.
Ich werde in meinem Testament bestimmen, sagte ich und erschreckte - weil sie diese Bemerkung ernst nahm - damit die Teilnehmerrunde, dass man mich nach meinem Tod verbrennen und die Asche im Winter bei Glatteis verstreuen soll, weil ich, so wie im Leben auch über den Tod hinaus Menschen vor dem Fall bewahren und denen, die zeitlebens auf mir herumgetrampelt sind, Gelegenheit bieten möchte, weiter auf mir herum zu trampeln.
Unsere