Briefe an die Geliebte. Gunter Preuß

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Briefe an die Geliebte - Gunter Preuß

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aber es fehlte uns die Kraft für den anderen. Nach dem Schweinesterben wurde ich als Vorsitzender abgelöst. Ich sollte im Rinderstall arbeiten, erst einmal für ein Jahr, um wieder zu mir zu finden. Ich tat diese Arbeit, das Nötigste, sprach mit keinem Kollegen. Ja, ich fühlte mich von den eigenen Genossen verstoßen. Unsere Idee von einer großen Menschengemeinschaft schien mir von ihnen aufgegeben zu sein. Nannerl kam ins Krankenhaus. Bald darauf wurde sie in eine Heilanstalt überwiesen. Es hieß, Seele und Geist seien schwer erkrankt; aber die Ärzte würden sie heilen. Nach ein paar Wochen war sie tot. Nachts ist sie in ein Ärztezimmer eingebrochen und hat an Tabletten geschluckt, was sie in sich hineinbekommen konnte. - Ja, weißt du, ich bin nicht mehr arbeiten gegangen. Ich habe mich fast totgesoffen. Ich hätte es wohl auch getan, wenn nicht die Lust am Essen über mich gekommen wäre. Irgendetwas in mir rebellierte gegen das Abkratzen. Ich aß nicht, ich fraß. Ich stopfte alles Essbare in mich hinein, und mein Hunger wurde nur größer. Ich hatte eine unersättliche Gier auf fettiges Fleisch, dick mit Butter und Wurst bestrichene Brote, auf süße Sahne und Torte. Ich konnte in ein paar Minuten drei, vier Tafeln Schokolade verdrücken. Meine Hosentaschen waren voller Sahnebonbons. Fressen - mein Leben, das hat mich gerettet. Sieh mich an. Ich wog einmal als ausgewachsener Mann einhundertsechsundvierzig Pfund. Kurz: Um mich einigermaßen satt zu kriegen, musste ich wieder im Rinderstall arbeiten. Ich habe mich noch einmal aufgerappelt, von dem Tag an, als ein Schuljunge sich vor mich stellte, mich staunend fixierte und überwältigt sagte: Nanga Parbat. In meiner Wohnung las ich im Lexikon nach, dass es 'nackter Berg' bedeutet. Nanga Parbat, ein über Achttausender. Verstehst du. Ich habe mir gesagt: So darfst du nicht vor den Menschen herumstehen. Nanga Parbat, Himmel noch mal, da musst du dran drehen. Ich habe mir Arbeit im Büro der Zementbude gesucht. Im Dachpappenwerk. Bei der Kreisleitung der Partei als fünftes Rad am Wagen. Das war mir egal. Nanga Parbat, Mensch. Das kann man doch nicht auf sich sitzen lassen. Entweder du tust etwas, oder du gehst daran kaputt."

      Du, ich habe Dich überm Erzählen nicht vergessen.

      Ich habe von den Liebschels für Dich erzählt, wie ich jede Geschichte für Dich aufgeschrieben habe. Wenn ich Dir nur noch einmal so wie damals gegenüberstehen und in Deinen Augen eine Nachricht an mich lesen könnte. Ich hätte weiter zu den Liebschels gehen sollen. Ich befand mich bei ihnen in einer Lehre, die mir Spaß bereitete. Aber ich habe sie abgebrochen. Warum? Fehlende Zeit. Zunehmende Verantwortung. Erfolge und Krisen. Erdrückende Weltprobleme. Man wird älter. Enttäuschungen. Am Haus muss noch dies und das getan werden. Es fehlt noch an diesem und jenem. Ich weiß nicht, ob das die Ursachen für mein Wegbleiben von den Liebschels sind. Ich weiß nur, dass es dumm, ja gefährlich war, aus ihrer Runde wegzubleiben. Heute erkenne ich, an den Sonntagvormittagen hast Du unter den Leuten gesessen, einmal neben Eduard, dem Bürgermeister, ein anderes Mal zwischen dem plappernden Guevara und dem schweigsamen Pedro und dann wieder neben Wassilis Frau Tanjetschka und der Bäuerin Alma. Jedes Mal warst Du in meiner Nähe, und ich war blind. Heute weiß ich, eines Morgens hätte ich Dich bemerkt. Aber ich habe mich wegtreiben lassen.

      Kurt Liebschel starb in diesem Frühjahr an einem Tag, der mit seinem Licht und seiner Wärme den Sommer ahnen ließ. Im Winter war er zur jährlichen Abmagerungskur gewesen, hatte fünfzig Pfund verloren und zwei Monate darauf sechzig Pfund zugelegt. Eine leichte Grippe hatte ihn erwischt. Am Tag vor seinem Tod war er beim Wellfleischessen des Notschlächters der Wellfleischkönig geworden. Es hatte ihm geschmeckt, er hatte ein paar Schnäpse zur Verdauung getrunken, sie hatten über den Bau der Kanalisation in D. gesprochen. Hanna hatte ihn gegen zweiundzwanzig Uhr mit dem Auto nach Hause gebracht. Als er am nächsten Nachmittag von der Arbeit kam, hatte er sich für "ein Stündchen aufs Ohr gelegt". Sie hatten ihn schlafen lassen, länger als die gewohnten zwanzig Minuten. Das Telefon hatte wie üblich mehrmals geläutet.

      Zum Abendbrot trug Hanna Speckkuchen auf, im ganzen Haus duftete es nach Kurt Liebschels Lieblingsessen; er aber schlief. Gegen zwanzig Uhr riefen sie ihn, sie kitzelten und rüttelten ihn. Kurt Liebschel lag, mit Turnhose und Turnhemd bekleidet, auf dem Sofa, lächelte und rührte sich nicht.

      Sechs Männer trugen schwer am Sarg. Der kleine Friedhof von D. war mit Menschen überfüllt. Noch nie habe ich bei einer Beerdigung so viele heitere Gesichter gesehen. Überhaupt war manches ungewöhnlich auf Nanga Parbats Begräbnis. Kein Trauerredner pries die Großartigkeit des Dahingegangenen. Stattdessen schallten aus Katastrophes Kassettenrekorder Wiener Lieder, von Paul Hörbiger gesungen; 0 du lieber Augustin, Drunt' in der Lobau, I hab die schönen Maderln net erfunden und das Fiakerlied.

      Und kummts omal zum Abfahrn

      und wer i dann begrabn,

      so spannts mer meine Rappen ein

      und führts mi übern Grabn.

      Dann lasstses aber laufen!

      führts mi im Trab hinaus!

      i bitt mers aus, nur nit im Schritt!

      nehmts meinetwegen die Kreizung mit!

      Am Grab, auf einem langen Tisch, standen Bier- und Schnapsflaschen, Krüge und Gläser, lagen auf Küchenbrettern gebratene Fleischstücke und aufgeschnittenes Weißbrot. "Langt kräftig zu", sagte Hanna. Die Leute aßen und tranken, wir mussten lachen, als der ungewöhnlich breite Sarg nicht in das schmale Erdloch versinken wollte. Einer rief: "Da muss man dran drehen. Stimmt doch, Nanga Parbat!" Ein paar Männer legten die schwarzen Anzugjacken ab, krempelten sich die Ärmel der weißen Hemden hoch und schaufelten das Grab breiter.

       ... Sein Blut war so luftig und so leicht wie der Wind ...

      Den ganzen Tag über kamen und gingen Leute, und es war wie an den Sonntagvormittagen bei den Liebschels: Es wurden Geschäfte abgeschlossen und von Gott und der Welt geredet.

      Das alles war schon erstaunlich. Aber am stärksten beeindruckte mich Hanna Liebschels Verhalten, nicht nur bei der Beerdigung, auch in der folgenden Zeit. Ich hatte angenommen, ohne Kurt fehlte ihr der Halt, er sei ihr das Rückgrat gewesen. Ich meinte, ihr Lachen sei eigentlich sein Lachen. Ich habe mich gründlich getäuscht. Hanna Liebschel ist durch Nanga Parbats Tod nicht zusammengebrochen. Ihr Gesicht war bleich am Tag der Beerdigung, mit dunklen Rändern unter den Augen; aber sie trug ein buntes Kleid, bewegte sich unter den Leuten und sprach mit ihnen über alles Mögliche. Ihre Augen blickten traurig, aber nicht beunruhigt.

      Am darauffolgenden Sonntagvormittag besuchte ich sie. In Liebschels Wohnzimmer herrschte nicht mehr das bunte Treiben, wie man es sich von einem orientalischen Markt vorstellt. Ein paar Getreue waren gekommen; aber der rechte Schwung wollte sich weder in der Geschäftstätigkeit noch im Gespräch einstellen. Sie gingen bald wieder, irgendeinen Vorwand als Entschuldigung vorbringend. "Geht schon in Ordnung", sagte Hanna. "Kommt, wenn es euch danach ist. Ihr wisst, wie Kurt darüber gedacht hat."

      Was war eigentlich passiert? Weißt Du, wovor ich die größte Angst habe: vor der Erschlaffung, der Gleichgültigkeit.

      Und Hanna geht an die Arbeit. Beim Ausmisten der Kaninchenställe singt sie auf weanerisch, dem das Sächsische und vor allem ein ganz eigener Ton die Melancholie nimmt: "Schau der den Blitz dort am Himmel an, ihm gehört der Augenblick. Um zu verlöschn, schlogt der wo ein, groad a so machts das Glück." Wenn ich Hanna begegne, schäme ich mich meines Verlustes an Heiterkeit, und ich sehne mich nach den Sonntagvormittagen bei Liebschels, als könnte ich Dich nur dort wiederfinden.

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