SINN FLUT. Gloria Fröhlich

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SINN FLUT - Gloria Fröhlich

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      Sie fühlte einen kräftigen Schlag, dann seine Körperwärme, fühlte, wie sich der lange Schwanenhals wie ein Lasso um den ihren schlang, der gellende Schrei ihre Ohren betäubte, warme Rinnsale von Blut über ihr Gesicht liefen und es mit einem festen Federfächer bedeckte, als sie taumelnd zu Boden ging. Sie riss die Augen weit auf und starrte wie durch Opalglas in den sonnigen Nachmittag. Kraftlos und unfähig, sich zu bewegen, lag sie ausgestreckt unter dem sich wälzenden Tier, das mit großen, flachen Füßen ihre Brust betrampelte, um Halt zu finden und sich immer wieder schwerfällig aufrichten wollte, was ihm jedoch misslang. Ihre Arme lagen nicht schützend um ihren Kopf! Sie hörte Stimmen, dann kleine, spitze Schreie ganz nah und weiter hinten und viele eilige Schritte. Hände griffen jetzt beherzt zu, nahmen keine Rücksicht auf die schmerzende Flügelverletzung, beschmierten sich mit Blut, und zerrten den in Rotschattierungen leuchtenden und kämpfenden Schwan von ihrem zitternden Körper. Jetzt versperrte ihr eine Horde Beine in langen Hosen und Nylonstrümpfen die Sicht auf die Binnenalster! Türkis war ihre Lieblingsfarbe, und sie erschrak über das flächige Blutrot an sich und ringsum. Wenn er in fünf Minuten nicht gekommen wäre, hatte sie gehen wollen. Er kam nicht! Dafür kam der Schock! Sie konnte nicht gehen, wie sie es sich vorgenommen hatte. Mit Blaulicht wurde sie gefahren! Wie wünsche ich mir doch so sehr, dass das Gewimmer, das ich höre, vielleicht von einem Engel wär’, der sich im Himmelshoch verlöre. Und hoffnungsvoll, es möge sein, taucht suchend nun mein Augenpaar, ins dunkle Tief des Himmels ein und wandert durch die Sternenschar. Sucht weiße Flügel und nicht klein, den strahlend schönen Heil’genschein. Sternschnuppen gleiten in ihr Grab, zerfallen in der Ewigkeit und lenken von dem Engel ab, der dort hoch oben, wie mir scheint, mit kleinen Seufzern Tränen weint. Ich muss ihn haben, will ihn finden und hielt ihn tröstend gern im Arm. Und Worte würden uns verbinden, doch ach - es ist ein Gänseschwarm! Der ruhig seine Bahnen zieht! So einer von den niemals müden, mit einem Reiseklagelied, auf seinem langen Weg nach Süden! Und meine Sehnsucht stirbt im Wind, durch Gänse, die kein Engel sind. Am Abend, als der Sonnenuntergang die Spalierobstplantage mit fadenscheinigem Brokat behängte, vertraute sich eine Obst- und Gemüsebäuerin aus den Marschlanden wohlüberlegt und mit gedämpfter Stimme ihrem polnischen Pflücker an: „Weißt du, mit wem ich nicht tauschen möchte?“ „Nein!“ „Mit Äpfeln und Birnen, mit Erdbeeren, Tomaten, Gurken, nicht mit Kirschen, nicht mit Pflaumen und auch nicht mit Kürbissen, ja und mit Mirabellen auch nicht!“ „Und warum nicht und warum solltest du?“„Ich möchte das nicht, weil sie in der Blüte ihres Lebens zwar über eine nicht zu übersehene Selbstverständlichkeit verfügen, in der Realität aber völlig unkritisch mit sich selbst noch nicht das verkörpern, was sie zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie das Ichbewusstsein ihrer ganz individuellen Persönlichkeit entwickelt haben, tatsächlich nicht nur vorgeben zu sein, sondern tatsächlich dann auch sind! Hast du das begriffen?“ „Ja, wenn ich so überlege, begreife ich das schon. Ich

      „begreife“ im wahrsten Sinne des Wortes ja beinahe jede Frucht. Aber weißt du, was mich jetzt zutiefst erschüttert?“ „Nein, aber sprich ruhig ohne Scheu!“ „Mich quält, dass sie dann ja sofort „in die Kiste“ gehen, eine Tragik, die wir bei der Beurteilung ihrer Lebenssituationen auf keinen Fall vergessen sollten!“ Purpurner Sonnenrest wälzte sich über gelbes durch Unkrautvernichter seiner ursprünglichen Farbe beraubten Grases und dahingeraffter, schlapper Brennnessel zwischen den Spalierobstbäumen, als der polnische Pflücker mit gekräuselter Stirnhaut bat:

      „Wo wir uns geistig gerade so nahe sind, kannst du mir vielleicht erklären, was konkret ein Mauerblümchen ist, ich habe davon so gar keine Vorstellung!“

      „Ja, das ist ein kleines Blümchen, das sich aus der Ritze einer Mauer wagt und auf Bienen und Schmetterlinge wartet, die aber nicht kommen“.

      4. Kapitel

      Ein feiner Mann in großer Not, war im Gebüsch verschwunden. Doch was sich ihm im Dickicht bot, das hat er nie verwunden. Vom Knie und Hüfte abgetrennt,

      lag da ein Oberschenkel, und wie es nur ein Schlachter kennt, mit dunklem Blutgesprenkel. Das, was ihm in die Glieder fuhr, das ließ ihn rückwärts taumeln. Er stürzte – und sah über sich, noch andre Teile baumeln. Da hing ein bleicher, Muskelarm und blutleer auch ein Bein, zwei Hände waren nicht mehr warm, ein Mund konnt’ nicht mehr schrei’n. Der Torso an dem Buchenstamm, gehörte einem Mann und zog mit seinem Leichenduft, die Fliegenschwärme an.

      Der feine Mann war sehr verstört, und ließ sich endlich warnen, kapierte, dass sich’s nicht gehört, an jeden Baum zu harnen. Da knackten laut im Unterholz,

      viel klapperdürre Äste, der Mörder wartete schon sehr, auf „notdürftige“ Gäste. Der packte sich den feinen Mann und stach ihn lachend nieder, und im Gebüsch, da hingen dann, mehr blutverschmierte Glieder. Plumbum. Lösliche Verbindungen sind giftig! Die Bleiwand schützte ab morgen vor Strahlung aus dem weiß bezogenen Bett dahinter. „Möchten sie zum Abendbrot Grau- oder Schwarzbrot, Pfefferminz- oder Hagebuttentee?“ Wurst und Käse war Standard. Er fällte Entscheidungen, die so einfach zu entscheiden waren und sich aus Gewohnheit wie von selbst ergaben. Es gab Rubriken auf einem Zettel, auf dem sie nun lächelnd unter Schwarzbrot und Hagebuttentee ein Kreuz machte. Dann schloss sie die Tür hinter sich. Thomas Manns schwerer Zauberberg lag auf seinen Knien und trug ihn mit Spannung bis tief in die Nacht aus dieser, in eine andere, kranke Welt. 48 Stunden lang musste er ab morgen darauf verzichten, zu duschen! Diese Vorstellung war für ihn genauso schwer zu ertragen, wie eine Stunde nicht essen zu dürfen, nachdem der Zahnarzt neulich Grund dazu hatte, das anzuordnen. Die meisten Menschen hielten auch einen Imbiss im Theater für erforderlich, damit sie nach der Pause bis zum Schluss körperlich durchhielten.

      48 Stunden verglichen mit 1 Stunde! Alle Vorkehrungen waren getroffen worden.

      Die Untersuchungen hatten ergeben, dass er ein Idealfall für die Therapie war.

      Ein wahrer Glücksfall für ihn und für den Arzt, einer Kapazität auf dem Gebiet, mit Beifall vom Hausarzt beklatscht! Den Weg hierher hatte er allein gehen müssen. Aber er war sowieso immer allein, und es hatte ihm nichts ausgemacht.

      In diese Abteilung durch gesicherte Türen in einen Extratrakt des Krankenhauses, durften nur „Auserwählte!“So jemand, wie er! Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass seine Schilddrüse jemals etwas mit dem Waffengesetz für Deutschland wegen des Dritten Reiches zu tun haben würde. Er atmete tief durch und schlief ein. Am nächsten Morgen wurde die Tür geöffnet und ein guter Tag gewünscht! Hatte er den? Mit energischen Schritten näherten sich drei in weißen Kitteln und standen wortlos und mit anspruchsvollen Gesichtern vor ihm.

      Was war harmlos an diesem Vormittag? Sie bekommen genau soviel Strahlung, als wenn sie nach New York fliegen, stand in der Broschüre, die zum Mitmachen auffordern und als Beruhigung dienen sollte. So harmlos war das also?

      Und der Arzt spielte Beipackzettel: „Die Augen müssen sie danach untersuchen lassen, damit sie nicht ihr Augenlicht verlieren! Da gibt es Tropfen! Aber bei ihnen erwarte ich keinerlei Nebenwirkungen oder Probleme – sie sind der ideale Patient für diese Behandlung! Die anfängliche Entspannung wegen der New Yorker Sache wurde durch den Schreck und die nachfolgende, grauenhafte Angst, vielleicht zu erblinden, abgelöst. Wer log denn nun und machte die Sache harmlos? Radio-Jod-Therapie! Damit auch mit einer geringen Menge

      Radioaktivität keine Waffe hergestellt werden konnte, kontrollierten sechs Augen wenig später die Einnahme der kleinen, weißen Kapsel, die in einem Glasröhrchen von einem der weißen Kittel gehalten wurde. Aber wie sollte das Glasröhrchen vor der Strahlung, die von der Kapsel ausging, schützen, wenn doch eine einen Meter hohe Wand aus Plumbum nötig war? Unter den aufmerksamen Blicken der drei Weißkittel, nahm er die Magentablette, die schon am Abend vorher in einer Glasschale gebracht worden war, in den Mund und spülte sie in der Stille des Zimmers mit reichlich Wasser herunter. Die Chance,

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