Alles über Gott und sein Volk. Eckhard Lange
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Das alles sind die Eckpunkte für den Glauben dieses Volkes, die seine Erwählung begründeten. Aber das sind – natürlich – nicht einfach historische Fakten, erhaben über jeden Zweifel und beweiskräftig für jedermann. Das sind überlieferte Erinnerungen aus vielen verschiedenen Epochen und wahrscheinlich auch von verschiedenen Gruppen, die erst in rückwirkender Deutung zu dem wurden, was wir heute in den Büchern des Tanach lesen können, wie die Juden das nennen, was die Christen als das Alte Testament bezeichnen.
Aber um zu verstehen, was dieses Volk so besonders gemacht hat, müssen wir kritisch zurückblicken, müssen wir wie die Archäologen Schicht um Schicht abtragen, jede einzelne dokumentieren und sie verstehen lernen, um uns dann der nächsten, tieferen und älteren zuzuwenden. Und wir müssen dieses Knäuel entwirren, das aus all den Fäden von Geschichten und Sagen, von Bekenntnissen und Begründungen sich gebildet hat, um darin den roten Faden zu finden, der uns das Besondere dieses Volkes und seines Glaubens erklären kann. Und eben das wollen wir versuchen.
Zwei Anmerkungen sind dabei wichtig: Wir wollen, wie eben gesagt, vom Heute her in das Vergangene vordringen. Das mag ungewöhnlich erscheinen, verfolgt man doch gemeinhin ein Phänomen von seinen Wurzeln her durch die Zeiten, um seiner Entwicklung nachzuspüren. Aber es ist ebenso reizvoll, diese Wurzeln erst nach und nach freizulegen, um oft erstaunt festzustellen, daß sie dann ganz anders sind als vielleicht erwartet.
Und das andere: Wir gliedern unsere Spurensuche nach bestimmten, für die Geschichte Israels bedeutsamen Begriffen. Doch sind sie ja zugleich Teil eines unteilbaren Ganzen, stellen ineinander verwobene, einander erklärende, einander bedingende Sichtweisen dar. Also kann sich manches auch wiederholen, muß anderes schon an einer Stelle gesagt werden, wo es nur nebenbei herangezogen wird. Das wird sich nicht vermeiden lassen. Und so bewahrheitet sich die Weisheit aller Forschenden: Daß ein Ganzes stets mehr ist als die bloße Summe seiner Teile.
ERSTER TEIL: DIE STADT - NÄCHSTES JAHR IN JERUSALEM
Mit diesem Wunsch endet die jüdische Sederfeier zu Beginn des Pesachfestes, Jahr um Jahr, ob sie nun in New York oder Kapstadt, Amsterdam oder auch in Jerusalem begangen wird. Nur ein Ritual? Eins, das nicht mehr in die Zeit passt, wo doch jeder Jude jederzeit in Jerusalem feiern könnte? Aber der Wunsch ist weit mehr als die Chance für einen Trip in die heilige Stadt. Dahinter steht die Erkenntnis, etwas ganz Wesentliches verloren zu haben: den Ort der erfahrbaren Gegenwart Gottes, den Ort der Anbetung und des Opfers, den Ort, an dem der Messias Jahwes zu erwarten ist. Also: einen religiösen Sehnsuchtspunkt jenseits aller praktischen Möglichkeiten.
Lucius Flavius Silva Nonius Bassus, römischer Legat und Befehlshaber der 10. Legion samt ihrer Hilfstruppen, hat unruhig geschlafen in dieser Nacht. Dabei ist er sicher: Wenn die Signale in der ersten Morgendämmerung seine Männer zum entscheidenden Angriff rufen, dann ist ihnen der Sieg sicher. Monate belagert das römische Heer nun schon diesen verdammten Felsen mit diesen ebenso verdammten Dolchmännern dort oben, die gewagt haben, Rom die Stirn zu bieten. Längst ist das ganze Land besetzt, Jerusalem, die Hauptstadt, niedergebrannt, der Tempel dieses merkwürdigen jüdischen Gottes dem Erdboden gleichgemacht, doch immer noch halten sich die Aufrührer dort oben, haben anscheinend einen unerschöpflichen Vorrat an Wasser und Nahrung, denn den Belagerungsring um das steil aufragende Felsplateau hat bislang niemand durchbrochen. Und dieses Bergnest, hunderte von Ellen auf nahezu senkrecht emporstrebendem Kalkstein, schien uneinnehmbar zu sein. Doch Rom kennt kein Unmöglich.
So hatte der Legat seine Männer – und davon gab es schließlich tausende - Tag um Tag mit Schaufeln und Karren an die Arbeit geschickt, bis eine riesige Rampe nur wenige Ellen unter der Felskante endete und ihm erlaubte, Rammen und einen Belagerungsturm vor die feste Steinmauer zu schaffen, die die Bergfestung umgab. Tagelang hatten die Widderköpfe gegen das Hindernis gewütet, bis es endlich in Trümmer sank und eine Bresche freigab.
Doch der Feind hatte rasch einen zweiten Wall errichtet, aus Holz und Erde aufgeschichtet, gegen den die Rammen machtlos schienen. Aber Brand auf Brand wurde gelegt, bis endlich die Balken Feuer fingen und der Wall zusammensank. Dennoch hatte Flavius die Truppen abgezogen, die Sonne stand schon tief im Westen, und der Kampf mit diesem Gegner mochte hart und langwierig werden. Während Wachen dort oben jeden Ausfall verhindern würden, sollten seine Männer ausgeruht in den Angriff gehen. Nur Flavius selbst fand keine rechte Ruhe, wie stets vor einem Kampf. Er hatte Jupiter und Mars und dem Genius des Kaisers geopfert und danach die Legionäre eingeschworen auf den nahen Sieg.
Noch hat der Sonnenball die Höhen jenseits des Salzmeeres nicht überschritten, da läßt der Feldherr die Männer antreten. Zwei Kohorten sollen den ersten Angriff übernehmen. In geschlossener Formation marschieren sie die steinerne Rampe hinauf. Flavius hat sich an die Spitze gesetzt, der Legionsadler wird ihm nachgetragen. Alle schweigen. Je dichter sie der zerborstenen Mauer kommen, desto mehr wächst die Anspannung. Die Männer wissen, mit welcher Verbissenheit diese jüdischen Aufständischen kämpfen. Jetzt übersteigt die Vorhut die Trümmer des verbrannten Walles, die Schilde bilden vorn und über ihren Köpfen einen festen Schutz. Doch noch ist vom Feind nichts zu sehen, kein Kampfgeschrei, kein Pfeilhagel empfängt sie.
Flavius zögert einen Augenblick: Welchen Hinterhalt mögen diese Juden gelegt haben, welch abgefeimte List haben sie geplant? Diese furchtbare Stille macht ihn unsicher. Er lässt die Nachfolgenden aufrücken, eine breite Linie bilden. Vorsichtig bewegt sich die römische Militärmaschine über das leere Plateau, auf den Gebäudekomplex zu, der einst der Palast des Königs Herodes war. Haben sich die Dolchmänner dort verschanzt? Der Legat winkt einen Centurio heran: „Durchsuchen!“ Er deutet auf den Vorhof des Palastes. Der Offizier grüßt, ein Dutzend seiner Männer durchschreitet das Tor, das Pilum vorgestreckt. Noch immer Schweigen.
Und dann ein Schrei. Kein Kampfruf, sondern ein erschrockener, entsetzter Schrei eines Mannes, der doch sonst keinen Schrecken, kein Entsetzen kennt. Der Centurio erscheint im Tor, winkt den Legaten heran. Und dann sieht Flavius Silva, was geschehen sein muß: Zu Hunderten liegen sie auf dem weiten Hof: Leichen. Blutüberströmt, Männer, Frauen, Greise, Kinder. Die Frauen und Kinder zuunterst, ordentlich hingebettet wie zum Schlaf. Darüber, mit ausgebreiteten Armen, die Männer, die Väter, durchbohrt von jenen Dolchen, die einst ihre gefürchtete Waffe war, aus dem Hinterhalt geführt. Und abseits die Leichen einiger junger Kämpfer, auch sie getötet. Und daneben der eine, der noch den Dolch in der Hand trägt, mit dem er sich selbst das Leben nahm. Der letzte. Und über allem das grelle Sonnenlicht. Und über allem diese Stille. Totenstille.
Stumm stehen die Männer, die Lanzen gesenkt wie zur Totenehrung. Sie werden ihre Waffen nicht brauchen an diesem Tag. Sie werden keinen Feind vernichten, keine Frauen als Beute nehmen, keine Kinder versklaven, keine Gefangenen kreuzigen. Sie haben nicht gesiegt. Dieser Feind ist unbesiegt gestorben, in Freiheit gestorben. Was für ein Volk, diese Juden!
Flavius Josephus, ein Jude, ehemals selber im Widerstand tätig und später Schriftsteller von Roms Gnaden, hat die Rede überliefert, mit der Eleazar, der jüdische Anführer auf Massada, die Männer dort zum Tod in Freiheit überredet hat. So will er es von einer Frau erfahren haben, die überlebt hatte: „Ungeschändet sollen unsere Frauen sterben, frei von Sklavenketten unsere Kinderl Und sind sie uns im Tode vorangegangen, so wollen wir selbst einander den Liebesdienst erweisen - dann wird der Ruhm, die Freiheit hochgehalten zu haben, uns ein ehrenvolles Leichenbegräbnis ersetzen! Schon lange nämlich hat Gott, wie mir scheint, diesen Ratschluss gefasst: wir sollen das Leben verlieren, weil er uns, seinem Volk, nicht mehr gnädig sein will. Wo ist sie hingekommen, die Stadt, die Gott der Herr einst gewürdigt hatte, in ihr zu wohnen? Vom tiefsten Grunde aus ist sie zerstört.“
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