Vater Goriot. Honore de Balzac

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       Vater Goriot

       Honore de Balzac

      Inhaltsverzeichnis

       Über den Autoren

       Vater Goriot

       Impressum

      Über den Autoren

      Honoré de Balzac war ein französischer Schriftsteller. In den Literaturgeschichten wird er, obwohl er eigentlich zur Generation der Romantiker zählt, mit dem 16 Jahre älteren Stendhal und dem 22 Jahre jüngeren Flaubert als Dreigestirn der großen Realisten gesehen.

      Vater Goriot

      Frau Vauquer, geborene von Conflans, ist eine alte Frau, die seit vierzig Jahren in Paris in der Rue Neuve-Sainte-Geneviève zwischen dem Quartier Latin und dem Faubourg Saint-Marcel eine gutbürgerliche Pension führt. Diese Pension, die unter dem Namen ›Haus Vauquer‹ bekannt ist, nimmt Männer und Frauen, junge und alte Leute auf, ohne daß jemals die Moral jenes achtbaren Hauses angezweifelt worden wäre. Aber man hatte auch seit dreißig Jahren kein junges Mädchen dort erblickt, und wenn sich ein junger Mann da einmietete, so mußte er schon einen recht mageren Wechsel haben. Dennoch befand sich im Jahre 1819, zu der Zeit, als das Drama begann, das ich hier erzählen will, ein armes junges Mädchen dort.

      Wie verrufen das Wort ›Drama‹ infolge seiner mißbräuchlichen Anwendung in unserer Zeit der sentimentalen Literatur auch sein mag, so muß es doch hier Anwendung finden: nicht etwa, weil diese Erzählung im eigentlichen Sinne dramatisch ist, sondern weil der Leser sicherlich nicht umhin kann, an ihrem Schlusse – intra muros et extra – ein paar Tränen zu vergießen. Wird man meiner Erzählung auch außerhalb von Paris Verständnis entgegenbringen? Die Frage ist berechtigt; denn diese Szenen sind so lokal gefärbt, daß sie nur zwischen den Höhen von Montmartre und Montrouge Würdigung finden können, in jener berüchtigten Talsenkung, wo zwischen unglaublich baufälligen Häusern ekle Gossenrinnsale sich hinziehen. Dort ist das Tal der wahren Leiden, der oft trügerischen Freuden und der immerwährenden Aufregungen, so daß nur das Unerhörteste imstande ist, die Gemüter längere Zeit zu fesseln. Doch begegnet man auch da dann und wann einem Menschen, dessen Leid erhaben ist durch das an ihm begangene Unrecht. Bei seinem Anblick verstummt der Eigennutz und verwandelt sich in Mitleid. Aber der Eindruck, den der einzelne empfängt, ist ihm nicht mehr als eine saftige, schnell verzehrte Frucht. Der Triumphwagen der Zivilisation ist grausam, wie jener des Götzenbildes von Jaggernat. Begegnet er auch manchmal einem Herzen, das weniger leicht zu zermalmen ist, so ist das Hemmnis doch bald überwunden, und weiter geht der große Siegeszug. So werdet auch ihr es machen, die ihr dieses Buch in eurer weißen Hand haltet, euch im behaglichen Sessel zurücklehnt und bei euch denkt: ›Hoffentlich ist die Geschichte unterhaltend!‹ Nachdem ihr das heimliche Elend des Vaters Goriot gelesen habt, werdet ihr mit Appetit zu Mittag speisen und eure Gefühllosigkeit auf Rechnung des Autors setzen, werdet ihn der Übertreibung, der Phantasterei bezichtigen. O wißt es nur: dieses Drama ist weder eine Erfindung noch ein Roman, ›All is true‹; es ist so wahr, daß jeder bei sich selbst, in seinem eigenen Herzen vielleicht, die Grundelemente findet, aus denen es entstanden ist.

      Das Haus, in dem sich die Familienpension befindet, gehört Frau Vauquer. Es liegt am Ende der Rue Neuve-Sainte-Geneviève, dort, wo das Gelände sich so plötzlich und steil nach der Rue de l'Arbalète hinuntersenkt, daß Pferde da nur selten zu sehen sind. Dieser Umstand begünstigt die Ruhe, die dort in den zwischen dem Dom vom Val-de-Grâce und dem Panthéon eng zusammengedrängten Straßen herrscht, wo jene zwei gewaltigen Bauten mit den düsteren Farben ihrer Kuppeln die Luft verdunkeln und einen gelben Schein verbreiten. Dort ist das Pflaster trocken, die Rinnsteine haben weder Schlamm noch Wasser, am Rande der Mauern wächst Gras. Der sorgloseste Mensch setzt gleich den anderen Passanten eine trübe Miene auf, wenn er da vorbeikommt, wo das Wagengerassel zum Ereignis wird und die Häuser grau und verdrießlich blicken wie Gefängnismauern.

      Wenn sich ein Pariser in dieses Viertel verirrt, so wird er nichts anderes gewahren als Familienpensionen und sonstige Herbergen des Elends und der Langenweile, des Alters, das hinstirbt, und der frohen Jugend, die gezwungen ist zu Knechtschaft und Arbeit. Kein Viertel von Paris ist entsetzlicher als dieses, aber auch keins unbekannter. Besonders die Rue Neuve-Saint-Geneviève ist wie ein Bronzerahmen für die Bilder von Not und Trübsinn, die ich hier aufrollen will und auf die eure Seele nicht genug durch dunkle Töne und traurige Gedanken vorbereitet werden kann. Dunkel und Trauer, wie sie den Besucher der Katakomben umfangen, wenn ihm von Stufe zu Stufe das Tageslicht und der Lärm der Straßen ferner rücken. Ein wahrer Vergleich! Wer möchte wohl entscheiden, was schrecklicher zu schauen ist, verdorrte Herzen oder hohle Schädel?

      Die Vorderseite des Hauses, in dem sich die Pension befindet, geht nach einem Gärtchen; das Haus steht also rechtwinklig zur Rue Neuve-Saint-Geneviève. An der Längsseite des Hauses, zwischen diesem und dem Gärtchen, zieht sich eine mit Kieselsteinen gepflasterte Abflußrinne von einem Klafter Breite hin; davor ist ein kiesbestreuter Weg, der von Geranium, Oleander und Granatbäumen eingefaßt wird, die in großen blau und weißen Steingutkübeln stehen. Nach der Straße zu befindet sich ein Tor, das die Aufschrift trägt: ›Haus Vauquer‹, und darunter: ›Bürgerliche Pension für Familien und andere‹. Das Tor ist mit einer lärmenden Glocke versehen, und bei Tage kann man durch das Gitter den Kiesweg entlang blicken, an dessen Ende, also der Straße gegenüber, die Mauer mit einer Malerei geschmückt ist, die einen Bogengang aus grünlichem Marmor darstellt und von einem Künstler desselben Stadtviertels ausgeführt wurde. Vor der Nische, die diese Malerei vortäuscht, steht eine Amorstatue. Mit ihrer abbröckelnden Tünche mag sie den Symbolikern ein Sinnbild der Pariser Liebe sein, der man nur wenige Schritte von dort eine Heilstätte errichtet hat. Der Sockel trägt eine Inschrift, die von der Begeisterung zeugt, mit der man Voltaire 1777 nach seiner Rückkehr nach Paris feierte, und die somit auch auf die Entstehungszeit der Statue hinweist:

      Der Meister aller Herzen auf Erden;

      Er ists – er wars – oder wird es werden.

      Zur Nachtzeit wird vor das Gitter noch ein festes Eisentor gelegt. Das Gärtchen, dessen Tiefe der Frontseite des Hauses entspricht, liegt zwischen der Straßenmauer und der Mauer des Nachbarhauses eingeschlossen, die ganz von altem Efeu überwuchert ist und dem Vorübergehenden einen malerischen Anblick bietet. An beiden Mauern befinden sich Obstspaliere und Rebstöcke, deren armselige staubige Früchte Frau Vauquers ewige Sorge und den Gesprächsstoff ihrer Pensionäre bilden. An jeder Mauer führt ein Weg zu einer Lindenlaube, die Frau Vauquer, ob gleich eine geborene von Conflans, eigensinnig Lindienlaube nannte, allen Belehrungsversuchen ihrer Gäste zum Trotz. Zwischen den beiden Seitenwegen liegt ein von Obstbäumen umstandenes, von Sauerampfer, Lattich und Petersilie eingefaßtes Artischockenbeet. Unter den Linden steht ein in die Erde eingerammter runder Tisch, von Stühlen umgeben. In den Hundstagen nehmen die Gäste – das heißt jene, die reich genug sind, sich den Luxus eines Nachmittagskaffees zu gestatten, – dort ihren Kaffee ein.

      Die Front des Hauses, das über seinen drei Stockwerken noch Mansarden trägt, ist aus Sandstein aufgeführt und mit jener gelben Tünche überstrichen, die fast allen Pariser Häusern ein häßliches Aussehen verleiht. Die in jedes Stockwerk eingepreßten fünf Fenster sind aus kleinen Scheiben zusammengesetzt und mit Jalousieen geschmückt, die alle verschieden hoch aufgezogen sind, so daß nicht eine mit der anderen auf gleicher Linie steht. Auf der Schmalseite hat das Haus in jedem Stockwerk zwei Fenster; die im Erdgeschoß sind mit schmiedeeisernem Gitterwerk versehen. Hinter dem Gebäude liegt ein Hof von ungefähr zwanzig Fuß Breite, wo Schweine, Hühner und Kaninchen einträchtig beisammen wohnen;

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