Grüne Soße, Tote Hose (XXL Leseprobe). Carola van Daxx
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Nach dem zweiten Cappuccino aus der zischenden Maschine, die im modern eingerichteten Wartezimmer zur Selbstbedienung stand, erschien eine der blutjungen Arzthelferinnen standesgemäß im weißen Kittel und geleitete ihn charmant in die heiligen Hallen zum Meister aller Hälse, Nasen und Ohren.
„Herr Johannsen, oder sollte ich lieber „Vincent“ sagen? Alles, alles Gute im neuen Jahr noch, auch wenn es schon ein paar Tage her ist. Das darf man doch noch Mitte Januar sagen, oder?“ Er drückte ihm fest die Hand – sein Handschlag war zum Glück nicht so ein lascher, wo man glaubt, ein toter Fisch gäbe einem die letzte Flosse. Jan mochte Menschen, die zupacken konnten und einen ordentlichen Händedruck hatten. Alles andere vermieste ihm schon die Lust auf sein Gegenüber. Das war mit zunehmendem Alter nicht anders geworden.
„Wo drückt der Schuh, mein Lieber? Macht sich der gute alte Van Gogh wieder einmal bemerkbar?“ Das war seine verspielte Umschreibung für Jans Ohrbeschwerden.
„Ja, Herr Dr. Siegerland, Ihnen auch noch ein Frohes Neues nachträglich. Und, wie Sie schon vermuteten: Mein Ohr spinnt mal wieder. Kaum, dass die Silvesterknallerei vorbei war, brummte es, klingelte es, pfiff es unaufhörlich. Außerdem tut es wieder einmal weh. So, als wäre ich ganz schlimm erkältet…“
„Sind Sie aber nicht, wie man unschwer erkennt…“, der Doktor schaute ihn wohl wissend mit seinen gütigen braunen Augen an. Alt war der gute Mann geworden, fand Jan, und fühlte sich selbst gleich viel jünger durch die immer grauer werdenden Haare, die erheblich tiefer gewordenen Falten des sonst recht fitten Arztes, und ertappte sich doch tatsächlich in Sekundenschnelle dabei, wie er darüber nachdachte, ob und wie lange er in Zukunft noch auf seinen Lieblings-HNO zählen konnte. Er wollte den Gedanken ad hoc wieder abschütteln, erinnerte es ihn doch daran, dass alles endlich war im Leben, eine grauenhafte Vorstellung – in den meisten Fällen. Und ausgerechnet daran wollte er überhaupt nicht erinnert werden…
Es war ihm ein Graus, über Dinge wie Alter oder gar Gevatter Tod nachzudenken, Wer wollte das schon? Aber immer häufiger wurde ihm bewusst, dass die Zeit anscheinend schneller und schneller verging, und er der ganzen Misere doch machtlos gegenüberstand, wenn man es realistisch betrachtete.
Nach kurzer Untersuchung nickte Dr. Siegerland zufrieden.
Was sollte das nun wieder bedeuten? Jan hatte Schmerzen und Töne, aber der Doktor sah aus, als hätte er gerade die 100.000-Euro-Frage bei Günter Jauch im Säckel!
„Alles in bester Ordnung, nichts Krankhaftes, nichts Beunruhigendes zu finden, mein lieber Malerfürst!“ Jan hörte den Begriff nicht gerne, wurde er doch gerne für die erfolgreichsten und teuersten Maler aller Zeiten benutzt – auch heute noch. Doch er wollte kein zweiter Lüpertz, Immendorf oder Richter sein. Und ihnen auch keinesfalls nachfolgen. Er sah sich, trotz allen wirtschaftlichen Erfolges, noch immer mehr auf der Seite der zu Lebzeiten überwiegend arm gebliebenen Impressionisten rund um die Wende zum 20. Jahrhundert. Und auch sein erfreulicher Kontostand konnte nichts an der Tatsache ändern, dass er sich noch immer erfolglos fühlte, innerlich. Auch wenn er nach außen ein ganz anderes Bild abgab und es nur unter Androhung von lebenslangem Whisky-Entzug laut zugegeben hätte.
Er wiederholte ungläubig: „Also, im Prinzip ist mit mir und meinen Ohren alles in Ordnung?“
„Ja, nichts Organisches.“ Zufrieden war Jan damit aber keineswegs.
„Nichts Organisches, aber was ist es dann?“, fragte er nach.
„Die Geißel unserer Zeit, mein teurer Freund. Und die heißt Stress! Sie sind unter Druck, die Muskeln verspannen, die Nerven reagieren, schon sind sie da: Töne und Schmerzen. Fühlt sich an wie Ohrenschmerz, ist im Grunde genommen auch Ohrenschmerz, hat aber eigentlich gar nichts mit den Ohren zu tun. Sie müssen zur Ruhe kommen, entspannen. Haben Sie nicht mal erzählt, dass Sie da oben im Vogelsberg auch Bäume umarmt haben? Gab es da nicht mal so eine Story von Wunderheilung unerträglicher Rückenschmerzen?“ Da musste Jan lachen. Er hatte es schon fast vergessen, genau, damals, als er das erste Mal bei Tonja Naumann, der Schottener Heilpraktikerin, gewesen ist und mit ihr zusammen viele Runden auf dem Hoherodskopf gedreht hatte. Immer endend mit einer ordentlichen Baum-Umarmung. Damals war von „Waldbaden“, wie es die Japaner nennen und es auf einmal auch hier der Weisheit letzter Schluss sein soll, noch keine Rede. Es war Tonjas ganz spezieller Therapieansatz gewesen, die Natur mit auf die Reise der Heilung zu nehmen – oder besser gesagt, den Menschen endlich wieder in die Natur und hin zu seinen Mit-Lebewesen zu bringen. Back to the roots sozusagen. Und was damals geholfen hatte, konnte doch heute nicht so verkehrt sein?
„Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis, Herr Doktor Siegerland! Das war einst eine super Sache, das mit den Bäumen. Vielleicht hätte ich nicht so lange pausieren sollen. Aber so ist das halt, wenn man keine Schmerzen mehr hat, dann lässt man die Dinge gern schleifen, nich‘?“
„Noch immer ganz der Hanseat! Am Satzende sagt der echte Hesse aber nicht „NICH“, sondern immer noch „GELLE“, gelle?“ Der Doc lachte herzlich, Jan auch. Und auf einmal waren die Töne in seinem Ohr verschwunden. Was für ein Zauber, wie ging denn sowas vonstatten? Schon wieder eine Art Wunderheilung? Das traute er sich aber nicht zu sagen und behielt es erst einmal für sich.
„Sie haben recht, am Satzende immer „GELLE“…“
„Dann sind wir für heute schon fertig, Herr Johannsen. Versuchen Sie möglichst, sich abzulenken von den Tönen im Ohr, überdecken Sie die Qualen am besten mit Alltagsgeräuschen und lauten Aktivitäten, vermeiden sie sozusagen die Totenstille. Und: Am besten, nicht immer darauf achten, was in den Ohren so zu hören ist. Das ist die beste Strategie, gelle?“
Sein Wort in Gottes Ohr, mehr fiel Jan dazu nicht ein.
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