Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann

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Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens - Jakob Wassermann

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lassen. Aber was heißt das: ihn ausforschen, ihn bewachen? Hat man darin nicht schon das Äußerste versucht? Ärztliche Vorsicht und menschliches Gefühl befehlen mir jetzt ohnehin die äußerste Behutsamkeit gegen ihn. Ich wage es ja kaum, ihn von der einfachen Kost zu entwöhnen und ihn so zu ernähren, wie es durch die veränderte Lebenslage bedingt ist.«

      »Warum wagen Sie das nicht?« fragte Herr von Tucher ziemlich erstaunt. »Wir sind doch übereingekommen, ihn endlich zum Genuß von Fleisch oder wenigstens von andern gekochten Speisen zu bringen?«

      Daumer zögerte mit der Antwort. »Milchreis und warme Suppe verträgt er schon ganz gut,« sagte er dann, »aber zur Fleischkost will ich ihn nicht ermuntern.«

      »Warum nicht?«

      »Ich fürchte Kräfte zu zerstören, die vielleicht gerade an die Reinheit des Blutes gebunden sind.«

      »Kräfte zerstören? Was für Kräfte vermöchten ihn und uns für die Gesundheit des Leibes und die Frische seines Gemüts zu entschädigen? Wäre es nicht vielmehr ratsam, ihn von der Richtung des Außerordentlichen abzulenken, die ihm früher oder später verhängnisvoll werden muß? Ist es gut, einen andern Maßstab an ihn zu legen als es einer natürlichen Erziehung entspricht? Was wollen Sie überhaupt, was haben Sie mit ihm vor? Caspar ist ein Kind, das dürfen wir nicht vergessen.«

      »Er ist ein Mirakel,« entgegnete Daumer hastig und ergriffen; dann, in einem halb belehrenden, halb bitteren Ton, der für einen Weltmann wie Tucher verletzend klingen mußte, fuhr er fort: »Leider leben wir in einer Zeit, in der man mit jedem Hinweis auf Unerforschliches den plumpen Alltagsverstand beleidigt. Sonst müßte jeder an diesem Menschen sehen und spüren, daß wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur umgeben sind, in denen unser ganzes Wesen ruht.«

      Herr von Tucher schwieg eine Zeitlang; sein Gesicht hatte den Ausdruck abwehrenden Stolzes, als er sagte: »Es ist besser, eine Wirklichkeit völlig zu ergreifen und ihr völlig genugzutun, als mit fruchtlosem Enthusiasmus im Nebel des Übersinnlichen zu irren.«

      »Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch nicht, auf die ich mich berufen kann?« versetzte Daumer, dessen Stimme leiser und schmeichelnder wurde, je mehr das Gespräch ihn erhitzte. »Muß ich Sie an Einzelheiten erinnern? Sind nicht Luft, Erde und Wasser für diesen Menschen noch von Dämonen bevölkert, mit denen er in lebendiger Beziehung steht?«

      Baron Tuchers Gesicht wurde düster. »Ich sehe in allem dem nur die Folgen einer verderblichen Überreiztheit,« sagte er kurz und scharf. »Das sind die Quellen nicht, aus denen Leben geboren wird, in solchen Formen kann sich keine Brauchbarkeit bewähren!«

      Daumer duckte den Kopf, und in seinen Augen lag Ungeduld und Verachtung, doch antwortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit: »Wer weiß, Baron. Die Quellen des Lebens sind unergründlich. Meine Hoffnungen wagen sich weit hinauf und ich erwarte Dinge von unserm Caspar, die Ihr Urteil sicherlich verändern werden. Aus diesem Stoff werden Genien gemacht.«

      »Man tut einem Menschen stets unrecht, wenn man Erwartungen an seine Zukunft knüpft,« sagte Herr von Tucher mit trübem Lächeln.

      »Mag sein, mag sein, ich aber halte mich an die Zukunft. Mich kümmert nicht, was hinter ihm liegt, und was ich von seiner Vergangenheit weiß, soll mir nur dienen, ihn davon zu lösen. Das ist ja das hoffnungsvoll Wunderbare: daß man hier einmal ein Wesen ohne Vergangenheit hat, die ungebundene, unverpflichtete Kreatur vom ersten Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Instinkt, ausgerüstet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforschung die Aufgabe kommender Jahrhunderte ist. Mag sein, daß ich mich täusche, dann aber würde ich mich in der Menschheit getäuscht haben und meine Ideale für Lügen erklären müssen.«

      »Der Himmel bewahre Sie davor,« antwortete Herr von Tucher und nahm eilig Abschied.

      Noch am selben Tag wurde Daumer durch seine Mutter aufmerksam gemacht, daß Caspars Schlaf nicht mehr so ruhig sei wie sonst. Als Caspar am andern Morgen ziemlich unerfrischt zum Frühstück kam, fragte ihn Daumer, ob er schlecht geschlafen habe.

      »Schlecht geschlafen nicht,« erwiderte Caspar, »aber ich bin einmal aufgewacht und da war mir angst.«

      »Wovor hattest du denn Angst?« forschte Daumer.

      »Vor dem Finstern,« entgegnete Caspar, und bedächtig fügte er hinzu: »In der Nacht sitzt das Finstere auf der Lampe und brüllt.«

      Den nächsten Morgen kam er halbangekleidet aus seinem Schlafgemach in das Zimmer Daumers und erzählte bestürzt, es sei ein Mann bei ihm gewesen. Zuerst erschrak Daumer, dann wurde ihm klar, daß Caspar geträumt habe. Er fragte, was für ein Mann es denn gewesen sei, und Caspar antwortete, es sei ein großer schöner Mann gewesen mit einem weißen Mantel. Ob der Mann mit ihm gesprochen? Caspar verneinte; gesprochen habe er nicht, er habe einen Kranz getragen, den habe er auf den Tisch gelegt, und als Caspar danach gegriffen, habe der Kranz zu leuchten angefangen.

      »Du hast geträumt,« sagte Daumer.

      Caspar wollte wissen, was das heiße. »Wenn auch dein Körper ruht,« erklärte Daumer, »so wacht doch deine Seele, und was du am Tag erlebt oder empfunden, daraus macht sie im Schlummer ein Bild. Dieses Bild nennt man Traum.«

      Nun verlangte Caspar zu wissen, was das sei, die Seele. Daumer sagte: »Die Seele gibt deinem Körper das Leben. Leib und Seele sind einander vermischt. Jedes von beiden ist, was es ist, aber sie sind so untrennbar gemischt wie Wasser und Wein, wenn man sie zusammengießt.«

      »Wie Wasser und Wein?« fragte Caspar mißbilligend. »Damit verderbt man aber das Wasser.«

      Daumer lachte und meinte, das sei nur ein Gleichnis gewesen. In der Folge nahm er wahr, daß es mit Caspars Träumen eigen beschaffen war. Sonst sind Träume an ein Zufälliges geknüpft, sagte er sich, spielen gesetzlos mit Ahnung, Wunsch und Furcht, bei ihm ähneln sie dem Herumtasten eines Menschen, der sich im finsteren Wald verirrt hat und den Weg sucht; da ist etwas nicht in Ordnung, ich muß der Sache auf den Grund gehen.

      Das Auffallende war, daß gewisse Bilder sich allmählich zu einem einzigen Traum sammelten, der von Nacht zu Nacht vollständiger und gestalthafter wurde und mit immer größerer Deutlichkeit regelmäßig wiederkehrte. Im Anfang konnte Caspar nur abgebrochen davon erzählen, so stückhaft wie die Bilder sich ihm zeigten, dann eines Tages, wie der Maler den Vorhang von einem vollendeten Gemälde zieht, vermochte er seinem Pflegeherrn eine ausführliche Beschreibung zu geben.

      Er hatte über seine Gewohnheit lange geschlafen, deshalb ging Daumer in sein Zimmer, und kaum war er ans Bett getreten, so schlug Caspar die Augen auf. Sein Gesicht glühte, der Blick ruhte noch im Innern, war aber voll und kräftig und der Mund war zu sprechen ungeduldig. Mit langsamer, ergriffener Stimme erzählte er.

      Er ist in einem großen Haus gewesen und hat geschlafen. Eine Frau ist gekommen und hat ihn aufgeweckt. Er bemerkt, daß das Bett so klein ist, daß er nicht begreift, wie er darin Platz gehabt. Die Frau kleidet ihn an und führt ihn in einen Saal, wo ringsum Spiegel mit goldenem Rande hängen. Hinter gläsernen Wänden blitzen Silberschüsseln und auf einem weißen Tisch stehen feine kleine, zierlich bemalte Porzellantäßchen. Er will bleiben und schauen, die Frau zieht ihn weiter. Da ist ein Saal, wo viele Bücher sind, und von der Mitte der gebogenen Decke hängt ein ungeheurer Kronleuchter herab. Caspar will die Bücher betrachten, da verlöschen langsam die Flammen des Leuchters eine nach der andern und die Frau zieht ihn weiter. Sie führt ihn durch einen langen Flur und eine gewaltige Treppe hinab, sie schreiten im Innern des Hauses den Wandelgang entlang. Er sieht Bilder

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